Bis ins 17. Jahrhundert war das Reisen in Mitteleuropa den pilgernden Geistlichen und jungen Adligen vorbehalten, die auf zwei- bzw. dreijährige Bildungsreisen, die sogenannte Grand Tour, gingen. Nur etwa ein Prozent der Menschen in Mitteleuropa reiste - mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von fünf bis sieben Stundenkilometern in Pferdekutschen. An jeder Fürstentumsgrenze wurde Wegezoll fällig. Reisen waren teuer, langwierig und strapaziös.
Im 19. Jahrhundert entwickelte sich mit dem Einsetzen der industriellen Revolution, dem Aufkommen der Eisenbahn und dem Herausbilden des Bürgertums mit seinen Beamten und höheren Angestellten eine Frühform des heutigen Tourismus. England war wie so oft Vorreiter, wo Thomas Cook 1841 – vereinfacht ausgedrückt – die erste Pauschalreise mit dem Zug anbot. In Deutschland ging es für den wohlgeborenen Teil der Bevölkerung von der Stadt aufs Land in die Sommerfrische – jedes Jahr an den gleichen Ort. Weiterhin war das aber Reisen ein absoluter Luxus – und Adel und Bürgertum blieben weitgehend unter sich.
Im 20. Jahrhundert, zuerst in der Weimarer Republik, wurde in Deutschland ein Urlaubsanspruch von drei bis sechs Tagen eingeführt, der den Weg zum Erholungsurlaub ebnete. Erste proletarisch-touristische Initiativen entwickelten sich, wie die Naturfreunde oder der Reisedienst des Deutschen Gewerkschaftsbunds. Nun erhielten auch weniger Betuchte die Gelegenheit, Erholungsreisen zu unternehmen.
Seit der NS-Herrschaft ab 1933 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 waren die Nationalsozialisten mit ihrer KdF-Organisation der weltweit größte Reiseveranstalter, und auch private Veranstalter kamen auf den deutschen Markt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg mit aufkommendem Wirtschaftswunder entwickelte sich die Bundesrepublik Deutschland schrittweise zu einem agilen Reiseland. Wer es sich leisten konnte, fuhr mit dem privaten PKW in die deutschen Mittelgebirge, an die Nordsee oder in die Alpen, oder gar darüber hinaus nach Italien. Seit den 1970er Jahren eröffnete der Flugverkehr, erst langsam, seit den frühen 1990er Jahren immer schneller, neue Perspektiven – vor allem am oder jenseits des Mittelmeers. Mallorca ist seitdem zweisprachig und galt zwischenzeitlich als 17. deutsches Bundesland.
In der DDR gab es einen staatlich kontrollierten und subventionierten Urlaubsdienst, der gutes Verhalten und politische Konformität belohnte. Für die DDR-Bevölkerung ging es vor allem an die heimische Ostsee und in die eigenen Mittelgebirge; beliebte ausländische Reiseziele waren später - je nach politischer Lage - Polen, Ungarn, die CSSR und Bulgarien. Wenige Privilegierte reisten per Kreuzfahrtschiff nach Kuba.
Und heute? Der Trend geht zum weiter, öfter, kürzer – aber auch zum differenzierteren und immer individuellerem Reisen. Günstige Flugverbindungen und Visa-Freiheit in vielen beliebten Urlaubsländern führen zu immer häufigeren Reisen bei immer kürzeren Reisezeiten.
In Deutschland hat neben dem Urlaubstourismus mit 69,1 Millionen Reisen (ab fünf Tagen Dauer) der Geschäftsreisetourismus mit über 180 Millionen Bewegungen stark zugenommen.
Viele Menschen in den weit entwickelten Urlaubergesellschaften Europas lassen sich nicht mehr eindeutigen Reisetypen zuordnen:
Gerade bei jüngeren Leuten wächst das Interesse an Städtetrips, z.B. um angesagte DJs oder Konzerte zu besuchen. Gerade Kurzurlaube gewinnen erheblich an Zuspruch.
Auch wenn der Trend gerade bei Besserverdienenden zum Dritt-Urlaub geht, darf nicht übersehen werden, dass 43 Prozent der Deutschen angaben, 2016 keine Reise (von mehr als fünf Tagen) unternommen zu haben.(2)
Neben ganz individuellen Gründen (z.B. Alter, Krankheit, zunehmend Sorgen vor terroristischen Anschlägen) fehlen vielen Menschen schlichtweg die finanziellen Mittel. Problematisch wird das besonders, wenn Kindern die Möglichkeit zur Teilnahme an Klassenfahrten fehlt und ihnen dadurch die Grundlage zur gesellschaftlichen Teilhabe - zumindest am Klassenverband - verwehrt bleibt.
Und global? Tourismus ist ein Privileg. Auch wenn die Tourismuszahlen dramatisch steigen (besonders in Schwellenländern) und die Welttourismusorganisation UNWTO von 1,8 Milliarden internationalen Touristenankünften in 2030 ausgeht (eine Verdoppelung seit 1990), dürfen diese Zahlen nicht darüber hinwegtäuschen, dass für den weitaus größten Teil der Menschheit der Tourismus einen unbekannten Luxus darstellt.
In allen Ländern der Welt ist Tourismus in der Regel das Privileg einer wirtschaftsstarken Mittel- oder Oberschicht.
Experten gehen davon aus, dass nur etwa zwei bis fünf Prozent der Weltbevölkerung jemals ein Flugzeug von innen gesehen haben.
Tourismus hängt von finanziellen Ressourcen und - nicht zuletzt - vom Zugang zu Reisefreiheit, sprich dem „richtigen“ Pass, ab.
Eben noch Ihre Traumvorstellung für den nächsten Sommerurlaub, plötzlich die Hauptschlagzeile in den Abendnachrichten: Was bedeutet es, wenn ein Tsunami, ein Erdbeben oder eine Epidemie ein beliebtes Reiseland ereilt? Oder wenn ein Terroranschlag, ein Militärputsch oder ein regionaler Konflikt nach einer Wahl zum Bürgerkrieg zu werden droht?
Zuerst einmal sind die Menschen vor Ort betroffen – denn es sind ihre Dörfer, die vom Erdbeben zerstört sind und ihre Nachbarn, die die Opfer eines Terroranschlags zu betrauern haben.
Doch in beliebten Reiseländern stellt sich oft sehr schnell die Frage, ob der Tourismus sich nach dem ersten Schock wieder erholen wird, ob die Reisenden weiterhin kommen und wieder Vertrauen finden?
Haben Sie sich schon mal gefragt, wie ein Reisepreis von 199 Euro für eine Woche Halbpension inklusive Flug möglich ist? Es ist oft ein Zusammenspiel von staatlichen Finanzspritzen und Schnäppchenpreisen verzweifelter Hoteliers.
Nach Terroranschlägen und Putschversuch im Jahr 2016, die zu massiven Reisestornierungen geführt haben, hat die Türkei entschieden, Chartermaschinen zu beliebten Urlaubsorten mit 6000 US-Dollar zu bezuschussen, um mit subventionierten Preisen verunsicherte Gäste anzulocken.
Hotels versuchen darüber hinaus, sich mit günstigen Preisen gegenüber den Wettbewerbern durchzusetzen und bieten zeitweise nicht kostendeckend Übernachtungen an. Das Personal wird nur nach abgeleisteter Arbeit gezahlt; d.h. keine Reisenden, kein Lohn.
Oft entsteht durch solche Preisnachlässe ein dauerhaftes Preisdumping, aus dem Destinationen nur schwer herausfinden. Niedrige Preise locken zwar Touristen an, doch wenn sich diese aus Furcht nicht aus den Hotels heraustrauen, Museen und Basare meiden, entstehen kaum positive wirtschaftliche Impulse vor Ort. Als Solidaritätsbekundung lässt sich eine solche Schnäppchenjagd jedenfalls nicht bezeichnen.
Wer solidarisch mit einem Land stehen möchte, auch in schwierigen Zeiten, sollte ein paar Dinge beachten.
Bei einer akuten Krise mit entsprechender Nachrichtenlage verlieren Reisende oft das Gefühl für die tatsächliche Sicherheitslage; stattdessen herrschen Vorurteile und Angst. Der Ukraine-Krieg hat die Reisendenzahlen im ganzen Land einbrechen lassen, obwohl der Konflikt lokal begrenzt ist. Das zeigte die Ebola-Epidemie in Westafrika: Die Touristenbuchungen in Kenia, also auf der anderen Seite des Kontinents, brachen stark ein, obwohl es dort – anders als in Europa - keinen einzigen Ebola-Fall gab.
In Ländern mit gravierenden Defiziten bei Rechtsstaatlichkeit oder Menschenrechten stellt sich für einige Reisende die Frage, ob bestimmte Länder überhaupt bereist oder doch besser boykottiert werden sollten, um gegenüber den Regierungen ein Zeichen zu setzen.
Boykotte treffen oft aber nicht zielgenau die Regierungen, sondern alle Menschen im Land. Gerade wenn die großen Reiseveranstalter nicht hinter einem Boykott stehen, bleiben die kleinen Hotels abseits der großen Hauptreiserouten unbelegt, während die großen Ferienhotels weiterhin ausgelastet sind. Andersherum aber profitieren die Regierungen immer direkt vom Tourismus - durch Steuereinnahmen, Visagebühren und in vielen Fällen durch direkte Beteiligung im Tourismussektor des Landes.
Der tunesische Diktator Ben Ali beispielsweise war bis zu seinem Sturz 2011 als Geschäftsmann intensiv mit dem Tourismus verbunden und häufte ein Vermögen an; er pflegte auch mit der deutschen Tourismuswirtschaft einträgliche Geschäftsbeziehungen.
Der Studienkreis für Tourismus und Entwicklung e.V. beschäftigt sich in seiner Reihe „Sympathiemagazine“ intensiv mit mehr als 40 Ländern und stellt dabei ihre Bewohner in den Mittelpunkt. Einheimische und Landeskenner nehmen die Lser mit auf eine Entdeckungsreise.
Die Magazine bereiten Reisende vor und ermuntern sie, einen Blick hinter die touristischen Kulissen zu werfen und sich - mit Neugier und Sympathie - auf Land und Leute einzulassen. In Bezug auf Reisen in autokratische Staaten, Diktaturen oder militärregierte Länder empfiehlt der Verein Reisenden, genau hinzuschauen und eine gut abgewogene Entscheidung zu treffen. (Sh. Linkliste am Ende)
Melden Sie verdächtige Beobachtungen (sh. Linkliste am Ende)!
Tourismus spiegelt nicht nur gesellschaftliche Realitäten der Reisenden und Bereisten wider – er findet auch in gesellschaftlichen Kontexten statt, die vielschichtiger und dauerhafter als der Zwei-Wochen-Sommerurlaub sind.
Es ist gut, dass sich die Auseinandersetzung mit Menschenrechten im Tourismus über die Frage des Reisens in menschenrechtlich fragilen Staaten hinausentwickelt hat. Längst ist klar, dass der Tourismus selbst einen Beitrag dazu leistet, ob sich die Situation der Menschen in den Reiseländern verbessert oder verschlechtert. In diesem Sinne stehen die Regierungen der Reiseländer, Wirtschaftsakteure wie Hotelbetreiber, Investoren und Reiseveranstalter sowie die Reisenden selbst in der Verantwortung.
Eine der gravierendsten Menschenrechtsverletzungen im Tourismus stellt die sexuelle Ausbeutung von Kindern dar. Die Zahl der Kinder, die im Umfeld von Tourismus und Reisen sexuell missbraucht werden, steigt jährlich. Das Gefühl der Straflosigkeit und der Anonymität der Täter begünstigt den Missbrauch.
Als Reisender können Sie aktiv werden und verdächtige Beobachtungen melden – sei es zur Strafverfolgung ans Bundeskriminalamt oder an die Kinderrechtsorganisation ECPAT in Deutschland, die sich sensibel mit Ihren Schilderungen auseinandersetzen und Sie beraten wird. Zeigen Sie Zivilcourage und melden Sie verdächtige Beobachtungen!
"Tourismus ist wie Feuer – man kann damit seine Suppe wärmen oder sein Haus verbrennen!“ (Asiatisches Sprichwort)
Der Tourismus gilt fast überall auf der Welt als Hoffnungsträger. Er bietet 240 Millionen Jobs weltweit, ist wichtigste Devisenquelle für jedes dritte Entwicklungsland und scheint ein unerschöpfliches Wachstumspotenzial zu haben. Kein Wunder, dass der Tourismus als Schlüsselsektor zur Erreichung der nachhaltigen Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals – SDGs) gilt und in der Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung sogar vier Mal genannt wird.
Die positiven ökonomischen Effekte des Tourismus sind schnell benannt:
Der internationale Tourismus trägt zu etwa neun Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts bei. Die Einnahmen des grenzüberschreitenden Tourismus belaufen sich jährlich auf über 1000 Milliarden Dollar.
Überdurchschnittliches Wachstum im Tourismus findet vor allem in und zwischen Schwellenländern statt.
Um zu beurteilen, inwiefern die Tourismuseinnahmen den einzelnen Bevölkerungsgruppen zugutekommen, muss man genau hinschauen. In vielen Entwicklungsländern werden Waren (z.B. Lebensmittel) oft importiert, so dass ein erheblicher Teil der Einnahmen das Land wieder verlässt. Es ist deswegen kein Wunder, dass Entwicklungs- und Schwellenländer pro internationalem Gast weniger Einnahmen aus dem Tourismus generieren als entwickelte Länder.
Die Arbeit im Tourismussektor ist sehr von der Saison abhängig und räumlich stark konzentriert. Aufstiegsmöglichkeiten haben oft nur diejenigen, die eine Fremdsprache sprechen und ein vergleichsweise hohes Maß an formaler Bildung mitbringen. So trägt der Tourismus zwar absolut zu mehr Einkommen bei vielen bei. Gleichzeitig aber droht er sozioökonomische Unterschiede in der Gesellschaft zu vergrößern und damit strukturellen Ursachen von Verarmung Vorschub zu leisten. Statistisch lässt sich nachweisen, dass es langfristig einen Zusammenhang gibt zwischen wachsendem internationalen Tourismus und der Zunahme von Einkommensungleichheit in Entwicklungsländern.
Global gesehen befinden sich viele Länder in einem harten ökonomischen Wettbewerb um Hotelketten, Reiseveranstalter und Gäste. Sie werben mit günstigen Investitionsbedingungen, d.h. konkret mit niedrigen Steuern, geringen Umwelt- und Sozialauflagen. Viele Entwicklungs- und Schwellenländer setzen auf Sonderwirtschafts- und Entwicklungszonen, in denen große Hotelanlagen dicht an dicht stehen. In diesen Sondergebieten sind immer wieder Vertreibungen und mangelnde Beteiligung der Menschen vor Ort an der Tagesordnung, berichten zivilgesellschaftliche Organisationen. Die Steuerbegünstigungen und -befreiungen verhindern darüber hinaus, dass Einnahmen generiert werden, die in den Gesellschaften verteilt werden können und die Menschen erreichen, die nicht direkt vom Tourismus profitieren.
Die Ökobilanz des Tourismus ist differenziert zu betrachten. Auf lokaler Ebene hängt es sehr von den Investoren und den politischen Entscheidungsträgern ab, ob Ökosysteme durch touristische Nutzung geschützt oder zerstört werden.
Unbestritten sind die klima- und umweltschädigenden Auswirkungen des Flugverkehrs, dessen Emissionen in hohen atmosphärischen Schichten besonders klimaschädlich wirken. Der Flugverkehr wächst jährlich um gut fünf Prozent, in einigen Schwellenländern sogar im zweistelligen Bereich. Mittlerweile nutzen jedes Jahr 3,3 Milliarden Passagiere ein Flugzeug und tragen damit erheblich zum menschengemachten Klimawandel bei.
Das klimaverträgliche Jahresbudget jedes Menschen ist bereits fast zur Hälfte durch einen Hin- und Rückflug von Mitteleuropa nach Tunesien ausgeschöpft – ganz zu schweigen von einem Flug in die Karibik, der etwa zweieinhalb mal mehr Treibhausgase verursacht als pro Person verträglich sind.
In allen Ländern sind es vor allem die Mitglieder der wachsenden Mittel- und Oberschicht, die Flugreisen beanspruchen. Die Folgen des Klimawandels treffen aber besonders ärmere Menschen in Entwicklungsländern, weil sie oft in starkem Maße von der Landwirtschaft abhängen und finanziell keine Kompensationsmöglichkeiten für Ernteausfälle und steigende Preise haben.
Es ist deshalb eine Frage der globalen Gerechtigkeit, Tourismus klimafreundlich zu gestalten. Gerade im Kurz- und Mittelstreckenbereich könnten Flüge reduziert oder gänzlich vermieden werden. Im Urlaub vor Ort stellt die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel eine klimafreundliche Option dar.
Im Vergleich zu anderen Wirtschaftszweigen hat der Tourismus eine besondere soziokulturelle Dimension: In keiner anderen Wirtschaftsbranche kommt der Kunde zum „Produktionsort“ und bekommt die Chance, die Menschen zu treffen, die für „sein“ Produkt verantwortlich sind – seien es die Mitarbeiter im Hotel, die Reiseführerin oder die Menschen, die im Urlaubsort leben.
Wenn es gelingt, Angebote zu schaffen, die Begegnung zwischen Touristen und Einheimischen auf Augenhöhe erlauben, kann der Tourismus zu globalem Verständnis und Austausch beitragen sowie die gegenseitige Wertschätzung erhöhen. Gelingt dies nicht, droht die Zerstörung der traditionellen Lebens- und Kulturformen im Urlaubsland.
Das Beispiel „Voluntourismus“ belegt dies. Dabei nehmen Reisende nicht nur touristische Angebote wahr, sondern erledigen freiwillig für kurze Zeit Arbeitseinsätze in sozialen Einrichtungen. Grundsätzlich ist ein Blick hinter die (touristischen) Kulissen begrüßenswert; er lässt aber in vielen beliebten Einsatzländern mitunter Korruption und Kinderhandel blühen, damit alle interessierten Reisenden Einsätze z.B. in Kinderheimen absolvieren können.
Wer viel reist, gilt als „bewandert“; der Blick über den eigenen (geographischen) Tellerrand bildet. Nicht nur das: Für viele sind die Urlaubswochen die schönste Zeit des Jahres. Hat der Tourismus also einen eigenen Wert, den er aus sich selbst erzeugt oder ist er heute viel mehr eine Projektion vom "guten Leben"? Sagen die Zuschreibungen über den Tourismus und das Urlauben nicht viel mehr über das Leben und die Gesellschaft aus als über das Reisen selbst?
Tourismus lebt von der Illusion - die harte Realität von Job, Familie und Nachrichtensendungen bleibt zu Hause, in der Fremde soll es nur schöne Erfahrungen und Eindrücke geben. Oder umgekehrt: Wer sich zu Hause langweilt, möchte im Urlaub Abenteuer und Exotik erleben. Oder einfach gar nichts tun.
Tourismus ist immer (auch) die Flucht aus dem Alltag. Er lebt gleichsam von den exotischen Zuschreibungen des Reiselandes wie von den Beschwerlichkeiten des Lebens zu Hause. In ihm treffen „Push- und Pullfaktoren“ zusammen: viele Gründe, die den Reisenden in der Fremde anlocken und mindestens genauso viele Gründe, die ihn dazu bewegen, den Alltag hinter sich lassen zu wollen. „Sie haben es sich verdient“ war jahrelang der Slogan eines großen Reiseveranstalters.
Und es wäre alles nicht so schlimm, wenn es dabei „nur“ um „uns“ ginge. Aber unser vorrangig nach Wachstum- und (Selbst-)Optimierung ausgerichtetes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem trägt auch mittels Tourismus den „Lifestyle des immer schneller, immer besser, immer exotischer“ in den letzten Winkel der Welt.
Und dort findet ein großer Zirkus statt. Mit vielen Artisten - den Mitarbeitern der Hotels, die Souvernirverkäufer und Museumsbetreiber, die unter höchster Anstrengung und Konzentration alles dafür tun, dass das Publikum (die Touristen) den Alltag spielerisch vergessen kann. Alles ist darauf ausgerichtet, die Erwartungen der Gäste zu erfüllen.
Die Artisten in den Urlaubsorten geben alles, trainieren hart. Bis zu dem Tag, an dem sich der überarbeitete Reiseleiter und das ausgebrannte Zimmermädchen vielleicht selbst einen eigenen Urlaub leisten können. Bei den in der Tourismusbranche üblichen Gehältern und der unsicheren Arbeitssituation eher später als früher…
Ist die Erholungspause vom überfordernden Alltag (sprich: der Jahresurlaub) also alternativlos?
Das Gegenteil von TINA (there is no alternative – alles ist alternativlos) ist TATA (there are thousands of alternatives – es gibt tausende Alternativen). Und deswegen ist ein anderer Tourismus möglich und dringend nötig. Es geht nicht um ein weiteres Bio-Siegel oder eine neue, noch unentdeckte Destination, sondern im Zentrum steht eine andere Lebenseinstellung, ein radikaler Perspektivwechsel – auch im Tourismuskontext: