Erster Schultag - Kindergruppe, einschließlich "Besatzungskinder", mit Schultüten auf Schulhof (undatiert), Bild: picture-alliance / dpa / Koll
Allerdings waren die ersten Kontakte zwischen den Alliierten und der weiblichen Bevölkerung alles andere als freiwillige Begegnungen. Wie von den Deutschen befürchtet, kam es im Frühjahr 1945 massenhaft zu spontanen, aber auch zu systematisch verübten sexuellen Gewalttaten. Über deren Dimensionen können wir nur spekulieren, denn die betroffenen Mädchen und Frauen verheimlichten gewöhnlich das Geschehen, weil sie sich schämten, weil sie sich schuldig fühlten – und/oder weil sie traumatisiert waren.
Das Tabu sollte das Verbrechen ungeschehen machen, es verdrängen – ebenso wie den Gedanken an eine ungewollte Schwangerschaft.
Die Opfer erstatteten weder Anzeige bei der Polizei noch bei den Behörden der Besatzungsmächte. Allenfalls vertrauten sie sich einem Geistlichen oder ihrem Hausarzt an. Die Tat und ihre Folgen blieben so zumeist ohne schriftliche Spuren.
Vor allem in den Köpfen und Herzen der Rotarmisten dominierte zu Kriegsende der Imperativ der Inbesitznahme – von Land und Leuten, von Hab und Gut, von Männern und Frauen. Eine gnadenlose Kriegspropaganda hatte die Legitimation für Massenvergewaltigungen geliefert:
„Tötet! Tötet! Es gibt nichts, was an den Deutschen unschuldig ist, die Lebenden nicht und die Ungeborenen nicht! Folgt der Weisung des Genossen Stalin und zerstampft für immer das faschistische Tier in seiner Höhle. Brecht mit Gewalt den Rassenhochmut der germanischen Frauen! Nehmt sie als rechtmäßige Beute!“ (Sowjetisches Flugblatt von 1942).
Die Mehrzahl der Gewalttaten wurde im Frühjahr 1945 verübt, wobei sich die Profile der Verbrechen und die Motive je nach Zeit, Ort und Umständen unterschieden: Die Berichte aus Ostpreußen unterscheiden sich deutlich von den Schilderungen aus Berlin. Anfangs schlugen die Rotarmisten wahllos zu; in ihrer Rage machten sie weder vor Mädchen noch vor Wöchnerinnen oder Greisinnen Halt. Hier ging es um die brutale und kollektive Demütigung der Frauen als Teil des Großen Vaterländischen Krieges gegen den faschistischen Feind.
Bis zur Besetzung Berlins hatte sich das Grundmotiv jedoch gewandelt – aus der zerstörenden Wut war ein Wille zur Inbesitznahme geworden. Nun trachteten die Täter danach, ihre Rechte als Sieger in einem vermeintlichen Niemandsland mit aller Macht einzufordern. Ihr Eindringen in private und sogar intime Sphären entfachte eine Form physischer und psychischer Gewalt, die die Erinnerungen der Menschen bis heute beherrscht.
Ähnlich wie im Hoheitsbereich der Roten Armee lassen sich auch im französisch besetzten Südwesten Deutschlands unterschiedliche Phasen ausmachen. Hier gruben sich vor allem die Gewaltexzesse von Freudenstadt im Schwarzwald in das kollektive Gedächtnis ein. Sie stehen für die Zeit kurz nach dem Einmarsch, als Einzeltäter wie Gruppen Tag und Nacht blindwütig gegen Zivilistinnen vorgingen. Dies änderte sich binnen weniger Wochen; fortan planten und koordinierten die Soldaten ihre Taten. Sie achteten nun darauf, dass ihre Vergehen im Verborgenen blieben und lauerten ihren Opfern im Schutze der Dunkelheit auf. Nachweise für solche Übergriffe lassen sich in fast allen Gebieten Südbadens, in Württemberg-Hohenzollern und im heutigen Rheinland-Pfalz finden.
Einen Eindruck von den Dimensionen vermitteln die Annalen der Pfarrämter, die über die Vorkommnisse – im Gegensatz zu den staatlichen und kommunalen Behörden – Buch führten.
Die Zeitgenossen machten damals allerdings ausschließlich die „schwarzen Horden de Gaulles“, also Soldaten marokkanischer und tunesischer Herkunft, für die Ausschreitungen verantwortlich. Aus ihrer Perspektive brachen unzivilisierte und ungezügelte Wilde in ihre idyllischen Ortschaften ein, unersättlich und unerbittlich im Verlangen nach körperlicher Befriedigung. Inwieweit diese Bezichtigungen die tatsächlichen Geschehnisse abbildeten oder vielmehr hergebrachte kolonialistische und rassistische Stereotypen wiedergaben, lässt sich nur schwer einschätzen.
Ein Indiz für eine hohe Anzahl weißer Soldaten als Täter ergibt sich allerdings aus einer Besonderheit in der französischen Zone. Die infolge von Gewalttaten geborenen Kinder wurden dort akribisch registriert, untersucht und wenn möglich zur Adoption in Frankreich freigegeben. Die auf diesen grenzüberschreitenden Wegen aktenkundigen Babys sind überwiegend weiß; ein deutlich geringerer Anteil verweist auf einen „fremdrassigen“ Vater.
Ganz andere Kriegserfahrungen brachten die Amerikaner und die Briten mit. Dennoch vergingen sich auch US-Soldaten vielfach an deutschen Zivilistinnen. Die Militärdienststellen registrierten für das erste Nachkriegsjahr in die Tausende gehende Anzeigen, wobei auch hier das Gros der Delikte während der Kampfhandlungen in der Endphase des Krieges verzeichnet wurde.
Hingegen zogen mit den Briten weitgehend zurückhaltende Truppen ein. Die Überlieferungen legen nahe, dass die „Tommys“ vergleichsweise wenige Verfehlungen zu verantworten hatten. Es ist freilich auch hier davon auszugehen, dass die wenigen Meldungen nicht die tatsächlichen numerischen Ausmaße dokumentieren. Wie in den anderen Besatzungszonen gab es auch hier für die Betroffenen nachvollziehbare Gründe, s
Hunderttausende Frauen trugen ihre durch einen Akt der Gewalt gezeugten Kinder aus.
Zu Weihnachten 1945 erblickten die ersten von ihnen das Licht der Welt.
Weder Fürsorger noch Beamte, weder die Politiker noch die Bürger hatten zu diesem Zeitpunkt eine Ahnung, was mit ihnen geschehen sollte.
Vor allem im Westen Deutschlands war man sich im ersten Nachkriegsjahr einig: Diese Neugeborenen durften unter keinen Umständen gemeinsam mit "deutschem" Nachwuchs aufwachsen. Für sie war ausgemacht, dass solche Kinder nur vorübergehend zu betreuen seien, ihr Aufenthalt in Deutschland könne allenfalls eine Zwischenstation darstellen. Der erste Impuls ließ die Fachleute auf ein Welt- und Fremdverständnis zurückgreifen, wonach eine Separierung als die einzig sinnvolle Vorgehensweise erschien: Die "Besatzungskinder" mussten alsbald aus der deutschen Gesellschaft entfernt werden. Aus dieser Sicht eröffneten sich für die "fremdstämmigen" Neugeborenen drei Wege:
In der Ostzone ließ es die offizielle Doktrin von einer "Deutsch-Sowjetischen Freundschaft" nicht zu, dass man die Nachkommen der siegreichen Sowjetsoldaten öffentlich zu Schandmalen stempelte. Doch auch hier verschwanden die "Russenkinder" zunächst aus den Augen der Öffentlichkeit.
Die Besatzungskinder hatten von Geburt an ein schweres Los zu tragen, denn ihre Herkunft galt gleich in mehrerer Hinsicht als zwielichtig:
Sie waren uneheliche Abkömmlinge und Kinder einer wie auch immer gearteten Verbindung mit dem Feind - als Folge freiwilliger sexueller Beziehungen mit Angehörigen der Besatzungsmächte, aber auch infolge von Vergewaltigungen.
Sicher war oft nur, dass ihr Erzeuger Soldat einer gegnerischen Nation war; sein Name, seine Biographie und die Geschichte der Beziehung zur Mutter aber blieben gewöhnlich im Dunkeln. Doch ob "Russen-" oder "Amikind", ob "Briten-" oder ob "Franzosenbrut" - als vielfach ungewollte und ungeliebte "Bankerte" mussten die Besatzungskinder mitsamt ihren Müttern diesseits wie jenseits der Demarkationslinien rigorose Ablehnungen und Diskriminierungen ertragen.
Bis heute existieren keinerlei verlässliche Statistiken über ihre Anzahl. Im Jahr 1955 publizierte die westdeutsche Regierung erst- und letztmalig Zahlen: Ihren Angaben zufolge waren in der Bundesrepublik und in West-Berlin seit Kriegsende insgesamt 68.000 "Besatzungskinder" geboren worden. Die von den Jugendämtern zusammengestellten Daten bezogen sich damals allerdings nur auf jene Mündel, die zum Stichtag unmittelbar unter Amtsvormundschaft standen. Wer zu diesem Zeitpunkt nicht vom Jugendamt betreut wurde, war längst aus den amtlichen Registern verschwunden. Nicht zu reden von all jenen Kindern, deren Abstammung von den Müttern geheim gehalten wurde: aus Scham, bisweilen aber auch aus Angst, man könnte ihnen ihr Baby wegnehmen.
Die Erhebungen des Statistischen Bundesamtes offenbarten dennoch wichtige Fakten: Demnach stammten
Fast 5.000 Kinder waren "farbig"; sie wurden damals unter der Bezeichnung "Mischlingskinder" geführt. Die Mehrzahl der Besatzungskinder lebte in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Hessen.
Für die Sowjetische Besatzungszone beziehungsweise für die DDR wurden zu keinem Zeitpunkt Erhebungen angestellt. Wissenschaftlich abgestützte Berechnungen gehen von mindestens 300.000 Kindern aus, die allein infolge von Vergewaltigungen unmittelbar zu Kriegsende geboren worden waren, spätere Geburten sind hier nicht einberechnet.
Wir haben es also mit weit über 400.000 Besatzungskindern im Westen und im Osten Deutschlands zu tun.
Die vier Besatzungsmächte waren sich trotz aller Differenzen in einem Punkt einig: Ihre Soldaten mussten vor den Ansprüchen deutscher Frauen und deutscher Dienststellen geschützt werden.
Damit waren auch den Jugendämtern die Hände gebunden. „Bastardy proceedings“, also förmliche Unterhaltsklagen, blieben tabu – sehr zum Ärger der deutschen Behörden, die im Falle, dass die Kindsmutter mittellos war oder keiner Erwerbstätigkeit nachgehen konnte, nun selbst für den Unterhalt ihrer Mündel aufkommen mussten.
Aufgrund dieser Rechtssituation lehnten es die Standesämter auch ab, die von den Müttern angegebenen Namen der Erzeuger in die Geburtsurkunden und in die Geburtenregister einzutragen. Weniger formell verhielten sich die Jugendämter: In der Regel trugen sie den Namen und die Adresse des mutmaßlichen Erzeugers in den vorgesehenen Personenbogen ein, freilich ohne jedwede juristischen oder administrativen Konsequenzen.
Einer der Gründe für die rigoros abweisende Haltung der Besatzer war deren Befürchtung, dass gerichtliche Unterhaltsprozesse das Ansehen der Armee als Ordnungsinstanz beschädigen könnten. Ähnlich wie bei den unmittelbar zu Kriegsende begangenen Vergewaltigungen wollte man auch in Bezug auf den illegitimen Nachwuchs jedes Aufsehen vermeiden. Die Militärführungen proklamierten aus diesem Grund jahrelang, dass es nicht ihre Aufgabe sei, für diese unerwünschten „Bastarde“ zu sorgen.
Transfer gen Frankreich
Eine Ausnahme machten die Franzosen: „Ihre“ Besatzungskinder wurden von Amts wegen nicht verschwiegen, sondern, im Gegenteil, zum Gegenstand einer permanenten Erhebung gemacht. Sogenannte Rechercheoffiziere überwachten Geburtskliniken und Hebammen, ja sie schreckten nicht einmal davor zurück, dort persönlich Wöchnerinnen am Krankenbett aufzusuchen und peinlich nach einem eventuell französischen Vater zu befragen. Aus ihrer Perspektive handelte es sich bei diesen Säuglingen um veritable Franzosen.
Im Sprachgebrauch der damit befassten Dienststellen ist denn auch stets davon die Rede, dass sie „repatriiert“ werden müssten: „retour en France“! hieß die Devise – obschon sie bislang nur die Luft der französischen Zone geatmet hatten und obschon sie nach dem in Deutschland nach wie vor gültigen Bürgerlichen Gesetzbuch zur Mutter gehörten und damit von Geburt an deutsche Staatsbürger waren. Das französische „Repatriierungs“-Programm bot den Mütter unmittelbar nach der Entbindung einen Ausweg aus ihren Nöten: Der französische Staat würde für den Nachwuchs Sorge tragen, ihm ein gutes Leben garantieren. Dafür mussten sie selbst ein für alle Mal auf ihr Kind verzichten und alle Rechte abtreten. Zehn Prozent der Mütter entschlossen sich zu diesem Schritt.
In vielen Fällen traten die deutschen Jugendämter sogar als Vermittler dieser nach deutschem Recht illegalen Transfers auf. Nach Frankreich durften allerdings nur diejenigen gelangen, von denen man annehmen durfte, dass sie Zeit ihres Lebens ihre Rolle als Franzosen optimal wahrnehmen würden. Babys, bei denen man Geschlechtskrankheiten, dauerhafte physische und psychische Probleme und Behinderungen diagnostiziert hatte, wurden an deutsche Kinderheime und bisweilen sogar an die Mütter zurück erstattet. – Die anderen Kinder warteten in speziell errichteten Heimen wie im badischen Nordrach auf ihre Adoption.
Für die westlichen Besatzungszonen gilt: Etwa zwei Drittel der Kinder wuchsen bei ihren Müttern oder bei Verwandten auf, ein Drittel kam bei Pflegeeltern oder in Heimen unter. Im Osten dürften die Verhältnisse ähnlich gewesen sein, wenngleich wir hierfür keine schriftlichen Belege haben.
Ohne Unterstützung durch die Väter lebten diese „unvollständigen“ Familien (wie sie amtlich hießen) in der ohnehin schon kargen Nachkriegszeit mehrheitlich in finanziell desaströsen Verhältnissen. Zur wirtschaftlichen Not kamen die psychischen und sozialpsychischen Belastungen, kam die gesellschaftliche Ächtung. Vor allem im näheren Umfeld, besonders in Dörfern oder Kleinstädten, glaubten die Einheimischen genau über die Herkunft der Kinder Bescheid zu wissen.
Der Umgang mit der Mutter wie mit ihrem Kind reichte dabei von Mitleid bis zu offener Verachtung – stets blieben sie jedoch Außenseiter. Nicht selten wurden sie seelisch und körperlich misshandelt.
Anfang der fünfziger Jahre begann sich die Situation zu ändern; die bisherige strenge Separierung ließ sich nicht beibehalten.
Spätestens mit dem Eintritt in die Schule mussten die Besatzungskinder ihr Haus, die Straße oder das Wohnviertel verlassen und sich ihrem gesellschaftlichen Umfeld stellen. Im Klassenzimmer waren sie nun beständig den Diffamierungen und Diskriminierungen ihrer Mitschüler ebenso wie ihrer Lehrer ausgesetzt.
Zeitzeugen können sich gut an die schmerzlichen Ausgrenzungen erinnern. Der Übergang von der geschützten häuslichen Gemeinschaft in die Gesellschaft machte sie allerdings nicht nur zu Opfern unzähliger Angriffe. Zwar hörten sie auf fremd klingende, auf ihre Väter verweisende Vornamen – sie hießen womöglich John oder Jerry, Igor oder Jean. Vielleicht hatten sie auch eine andere Hautfarbe. Trotzdem: Jedermann in ihrem Umfeld wusste mit der Zeit, dass sie die deutsche Sprache und sogar den ortsüblichen Dialekt sprachen und dass sie mit den Gebräuchen der Heimat wohlvertraut waren. Insofern kam es durch das erzwungene nahe Zusammenleben mit diesen Kindern zu bedeutsamen gesellschaftlichen Lernprozessen:
Die zunächst gänzlich abgelehnten und abgeschotteten Fremden avancierten mehr und mehr zu Vermittlern einer neuen Offenheit; ihre Präsenz im Alltag vor Ort und in der Öffentlichkeit induzierte Liberalisierungstendenzen, die sich in den sechziger Jahren mit Verve ihren Weg bahnten.
„Schattenfamilien“
Dennoch: Die von Diskriminierungen begleitete Kindheit ohne Vater zeitigte bei den Betroffenen schwerwiegende Folgen bis zur Gegenwart. Ihnen gemein ist das immens starke Bedürfnis, Kontakt zum Vater respektive zu dessen Familie aufzunehmen. Anders als Kriegskinder im Allgemeinen, leben die Besatzungskinder bis heute mit einer „Schattenfamilie“. Der Vater war eben nicht im Krieg gefallen oder nach der Kriegsgefangenschaft nach Deutschland zurückgekehrt. Er war gleichsam „über Nacht“ verschwunden und lebte nun an einem Ort weit entfernt, den Zugriffen der Söhne oder Töchter in Deutschland entzogen.
Mit Fug und Recht können die zurückgebliebenen Besatzungskinder annehmen, dass, wenn womöglich auch die Väter bereits verstorben sind, so doch Halbgeschwister existieren, Mitglieder einer schmerzlich vermissten Familie. So manches Besatzungskind macht sich nun im Alter auf die Suche nach seinen Wurzeln.
Zwei Auszubildene in einer Autofabrik 1960. Gerd Bolz (re) gehört zu den tausenden von "unehelichen farbigen Beatzungskindern deutscher Staatsangehörigkeit", wie die offizielle Amtsbezeichnung lautet. Bild: picture-alliance / dpa / Heinz-Jürgen Göttert
Die Besatzungskinder stellten 1945 eine unumgehbare moralische, juristische sowie ökonomische und kulturelle Herausforderung dar. Der mediale und der praktische Umgang mit ihnen machte grundlegende Einstellungen seitens der Bevölkerung offenbar – nicht nur in Bezug darauf, wie man dem Anderen, dem vermeintlich „Fremden“, begegnete.
Es ergibt sich der erstaunliche Befund, dass gerade diese vermaledeiten Kinder und Jugendlichen zu wertvollen Vermittlern wurden. An ihnen kristallisierten sich Jahrzehnte lang wesentliche innerfamiliale wie gesamtgesellschaftliche Aushandlungsprozesse: Die Nähe und Distanz der Einheimischen zu den Besatzungskindern reflektierte Nähe und Distanz zum vermeintlich Fremden und die individuelle wie die kollektive Verantwortung in Bezug auf die nationalsozialistische Vergangenheit.
Wesentliche Paradigmen der Nachkriegsgesellschaften wurden daher über sie thematisiert und ausgefochten – und nicht zuletzt auch ganz handgreiflich in die Praxis umgesetzt. Diese Gruppe der Kriegskinder avancierte von Objekten der Verachtung zu Subjekten, die die Nachkriegsgesellschaften allein schon durch ihre Anwesenheit weiter brachten. Sie bewirkten Debatten, die in der (post-)rassistischen Gesellschaft nach Re-Orientierung, nach neuen Normen und Formen des Umgangs miteinander und mit dem Fremden suchten. Ihr Da-Sein und ihr So-Sein machte sie zu Vermittlern der Liberalisierung – nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in der DDR.
Denn der Alltag, in dem die Besatzungskinder tagtäglich unterwegs waren, waren keineswegs nur Räume der Ausgrenzung und Diskriminierung.
Die Erinnerungen unserer Zeitzeugen an ihre frühe Kindheit oszillieren zwischen zwei Polen. Viele Betroffene erinnern sich bis heute, wie Nachbarn und Mitmenschen mit ihnen scherzten, wie sie auf sie zugingen, als hafte ihnen keinerlei Makel an. Die Nachbarn, das Dorf, die kleine Stadt: In den überschaubaren Gemeinschaften erlebten die Kinder auch, wie Mitmenschen sich um sie kümmerten und ihnen Geborgenheit gaben.
Doch bei aller Sicherheit wurden sie unvermittelt immer wieder zugleich mit dem schmerzlichen Gegenteil konfrontiert: Über einem Alltag in Normalität schwebte immer auch das Damoklesschwert der Stigmatisierung. Vor allem in Momenten des Konfliktes und der Krise kamen die offenbar stets latenten diskriminierenden Ressentiments wieder zum Vorschein.
Die Gefahr, dass im nahen Lebensumfeld mit seinen eingeübten Kompromissen plötzlich eine folgenreiche Konfliktsituation entstand, verstärkte sich mit dem Schuleintritt. Die Lehranstalt hielt für die Besatzungskinder durchaus gravierende Erfahrungen bereit. In welchem Ausmaß sie prägend für ihr weiteres Leben waren, hing einerseits von der Gemeinde ab, in der sie eingeschult wurden. In einem kleinen, überschaubaren Ort waren sie längst allseits bekannt und womöglich anerkannt, so dass der Weg ins Klassenzimmer nicht zum Pilgerpfad in ein gänzlich fremdes Terrain wurde.
Anders stellte sich dieser Weg in einer größeren Ortschaft dar. Hier mussten sich die Besatzungskinder von der wohlvertrauten Nachbarschaft lösen – auf ihrem Gang zur Schule und im Klassenzimmer begegneten ihnen nun Menschen, die sie noch nie zuvor gesehen hatten. Es machte einen Unterschied, ob dem Lehrer, den Mitschülern und deren Eltern beim Anblick eines kleinen Abc-Schützen sofort dessen Name bekannt war und sich Erinnerungen an seine Mutter und deren Lebensumstände einstellten oder ob das Besatzungskind eine völlig unbekannte Größe darstellte.
Im Verhalten gegenüber den Besatzungskindern spiegelten sich auch die Einstellungen gegenüber den alliierten Soldaten wider.
Die zu Beginn geschilderten Erwartungen der Deutschen an die Okkupanten, die im Falle der Rotarmisten, der Franzosen und der schwarzen GIs sogar mit existenziellen Ängsten besetzt waren, sowie die teils furchtbaren Erfahrungen mit den einmarschierenden Truppen projizierten die Zeitgenossen dauerhaft auf deren "Bankerte".
Die Quellen zeugen davon, dass Kinder von weißen Amerikanern oder von Engländern von deren vergleichsweise gutem Image profitieren konnten, Sprösslinge von rassisch oder zivilisatorisch vermeintlich „minderwertigen“ Erzeugern hingegen große Ablehnung erfuhren.
Michael, der Sohn von Helene und Mojssej, erzählt, dass sein Vater seine Schulkarriere sogar befördert hatte, obwohl Rotarmisten innerhalb der DDR-Bevölkerung eigentlich einen schweren Stand hatten. Wie sein Vater wollte der Heranwachsende Kommunist werden, was in seiner Polytechnischen Oberschule durchaus gern gesehen wurde. Mit seinem Einfluss im Klassenkollektiv wuchs auch die Anerkennung bei den Mitschülern. Michael war plötzlich einer, auf den es ankam, er hatte etwas zu sagen. Mit dem Vater und Kriegshelden im Rücken setzte er sich gegen alle seine Kritiker durch.
Im Frühjahr 1946 schlug der Stuttgarter Arzt Herbert Frank dem Länderrat der amerikanischen Zone eine Lösung für die gerade zur Welt kommenden Besatzungsbabys vor. Er forderte weitsichtig ein „Pädagogium des Weltfriedens“ für „Kinder aller Rassen und Völker, die ihrer Entstehung nach in zwei verschiedenen Völkern wurzeln und aus mangelnder moralischer Einstellung ihrer Umgebung sozial unterzugehen drohen.“ Vor allem das deutsche Volk bedürfe dringend einer „praktisch-ideologischen Belehrung über die Verworfenheit der rassistischen Vorstellung seiner politischen Vergangenheit.“
Für den Mediziner waren ein Jahr nach Kriegsende mit diesen Kindern die „Weltbürger der Zukunft“ geboren worden. Für den Humanisten Frank waren sie keine „Niemandskinder“, sondern „Zukunftskinder“: Es gelte, alles dafür zu tun, um sie in die deutsche Gesellschaft zu integrieren – dann würden sie zu Garanten eines künftig liberalen und weltoffenen Deutschland fungieren.
Es dauerte Jahre, bis der Kerngedanke des „Memorandums Frank“ in den öffentlichen Debatten der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft Gestalt annahm.
Es war ein sperriger und langwieriger Lernprozess, der für Politiker und Funktionäre als auch für die Bevölkerung von vielen Konflikten, aber auch von Kompromissen begleitet war. Sowohl im Westen als auch im Osten handelte es sich bei den Interaktionen mit den Besatzungskindern um komplizierte Gemengelagen aus fortdauernder Fremdheit und erzwungener wie freiwilliger Nähe.
Es scheint, als hätte die Anwesenheit der Kinder in der Mitte der Gesellschaft, in der Gemeinde, im Stadtviertel, in der Schule oder im Laden um die Ecke, gekoppelt mit den öffentlich geführten normativen Mediendiskursen eine Möglichkeit für die Deutschen dargestellt, die Konstituenten ihres Wir-Gefühls und ihrer Identitätsmuster zu hinterfragen und neu zu justieren – eine kommunikative und psychische, eine soziale und politische Leistung, auf die sie sich auch angesichts der gegenwärtig ankommenden Fremden durchaus in Zuversicht besinnen können.
Zum Weiterlesen:
Silke Satjukow / Rainer Gries: „Bankerte!“ Besatzungskinder in Deutschland nach 1945. Frankfurt a.M. / New York 2015.
Silke Satjukow
Professorin für Neuere Geschichte (Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg)