Deutschland in Europa - Die Last der geopolitischen Mitte


Von Prof. Herfried Münkler

Starker Akteur im Zentrum

 

"Seit den 1990er Jahren nimmt Deutschland wieder die Position eines starken Akteurs in der Mitte Europas ein und ist, wie es der Politikwissenschaftler Hans-Peter Schwarz formuliert hat, wieder zur «Zentralmacht Europas» geworden.

Das ist eine schwierige Position; mit einer vergleichbar anspruchsvollen Rolle sind die Deutschen in den zwei Jahrzehnten vor 1914 nicht zurechtgekommen."


Rückblick:

 

Neue geopolitische Relevanz nach 1990

Mit der Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg gab es vorerst keine europäische Mitte mehr: Die eine Hälfte kam unter sowjetische Herrschaft, die andere unter die Dominanz der USA. Diese Konstellationen endeten 1990, und die Wiedervereinigung Deutschlands wurde zum Startschuss für das neuerliche Zusammenwachsen des Kontinents. Man kann das auch umkehren:

Ein Zusammenwachsen Europas wäre ohne die Wiedervereinigung Deutschlands nicht möglich gewesen. Infolgedessen entstand auch wieder eine europäische Mitte, deren geopolitische Relevanz jedoch durch das Militärbündnis der Nato mit den USA als Hegemon sowie die wirtschaftlichen und politischen Verflechtungen innerhalb der Europäischen Union begrenzt geblieben ist.

Mit der inzwischen begonnenen Verlagerung des US-amerikanischen Aufmerksamkeitsfokus aus dem atlantischen in den pazifischen Raum beginnt sich das zu verändern. Europa wird wieder lernen müssen, mit sich allein auszukommen, und damit wird die Position der Mitte an politischer Brisanz gewinnen: Begreift man den Großen Krieg als einen Kampf um die europäische Mitte und sieht man in dessen Zentrum den Konflikt zwischen Deutschen und Franzosen, so erhält die unter Adenauer und de Gaulle geschmiedete deutsch-französische Achse erst jetzt ihre volle Relevanz. Fasst man die Mitte weiter, so gehört Polen dazu, und die deutsch-französische Achse wird in das «Weimarer Dreieck» überführt, von dem zwar gelegentlich die Rede ist, das innerhalb der europäischen Politik vorerst aber keine größere Rolle spielt.

Folgt man dieser Sicht, so heißt das zweierlei:

  •     Erstens, dass Europa so lange pazifiziert [4] bleibt, wie diese Achse oder dieses Dreieck funktionieren, und

  •     zweitens, dass die Regierungen dieser drei Staaten permanent auf die Konflikte an der Peripherie, der inner- wie der außereuropäischen, achten und verhindern müssen, dass diese noch einmal ins europäische Zentrum vordringen

"Die Last der geopolitischen Mitte" aus:

Herfried Münkler
Der Große Krieg.
Die Welt 1914 - 1918.

Mit freundlicher Genehmigung
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Anmerkungen

[1] Gemeint ist eine gewisse Anzahl dem August 1914 zeitlich vorgelagerter Konflikte, z.B. die Balkankriege 1912-13, Spannungen innerhalb des Zaren-, Habsburger und Osmanischen Reichs bzw. zwischen diesen Mächten; red. onlineakademie (oa).

[2] sinngemäß: umfassend zerstörerisch; red. oa.

[3] sinngemäß: Vorhof; red. oa.

[4] Befriedet, red. oa.