"Seit den 1990er Jahren nimmt Deutschland wieder die Position eines starken Akteurs in der Mitte Europas ein und ist, wie es der Politikwissenschaftler Hans-Peter Schwarz formuliert hat, wieder zur «Zentralmacht Europas» geworden.
Das ist eine schwierige Position; mit einer vergleichbar anspruchsvollen Rolle sind die Deutschen in den zwei Jahrzehnten vor 1914 nicht zurechtgekommen."
Rückblick:
Politiktheoretisch interessant ist nach wie vor die Frage, wie es zu diesem fatalen Ineinanderfließen sachlich wie räumlich voneinander getrennter Konflikte kommen konnte [1]. In seiner Zeit als Reichskanzler hatte Bismarck seine zentrale Aufgabe darin gesehen, solche Entwicklungen zu verhindern, und dementsprechend etwa darauf geachtet, dass Frankreichs Aufmerksamkeit sich auf Nordafrika und Indochina richtete, sodass die Streitpunkte mit Deutschland an den Rand seiner politischen Agenda gerieten. Außerdem war er darauf bedacht, dass Deutschland bei der Bearbeitung der europäischen Konflikte eine Vermittlerrolle einnahm, um kataklysmische [2] Eskalationen zu verhindern. Aber hätte ein deutscher Kanzler diese Rolle am Beginn des 20. Jahrhunderts noch spielen können?
Eine besondere Bedeutung kommt dabei den Veränderungen der europäischen Bündniskonstellationen zu, die zum Teil mit, zum Teil aber auch ohne deutsches Zutun und fast durchweg gegen die deutschen Interessen erfolgten. Das Desinteresse, das in den letzten Jahrzehnten ein Großteil der deutschen Forschung an diesem Thema als Teil der Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs gezeigt hat, und ihre stattdessen erfolgte Fixierung auf die inneren Verhältnisse des Reichs, vor allem den Konflikt zwischen Industrie und Großagrariern, dürfte vor allem darauf zurückzuführen sein, dass sich vor 1989 bündnispolitische Fragen nicht stellten und der Aufmerksamkeitsfokus der Gesellschaft auf sich selbst gerichtet war; in der zu außenpolitischer Abstinenz verurteilten Bundesrepublik fand die Theorie vom Primat der Innenpolitik kaum zufällig offene Ohren.
Seit den 1990er Jahren nimmt Deutschland wieder die Position eines starken Akteurs in der Mitte Europas ein und ist, wie es der Politikwissenschaftler Hans-Peter Schwarz formuliert hat, wieder zur «Zentralmacht Europas» geworden. Das ist eine schwierige Position; mit einer vergleichbar anspruchsvollen Rolle sind die Deutschen in den zwei Jahrzehnten vor 1914 nicht zurechtgekommen.
Historisch betrachtet reicht das Problem der «starken» oder «schwachen» Mitte jedoch sehr viel weiter zurück: Die Gründung des Deutschen Reichs am 18. Januar 1871 hatte die machtpolitischen Konstellationen von Grund auf verändert. Zuvor gehörte Preußen hinter Großbritannien, Frankreich und Russland zu den schwächeren Akteuren der europäischen Pentarchie, und während des Krimkriegs hatte es sogar um seine Position als Großmacht bangen müssen – weil es an dem Krieg nicht teilgenommen und in der einzigen weltpolitisch relevanten Auseinandersetzung zwischen 1815 und 1914 auf europäischem Boden keine Rolle gespielt hatte. Das änderte sich 1866, als sich Preußen im Krieg mit Österreich-Ungarn als die militärisch stärkere Macht erwies; mit der Reichsgründung und dem vorangegangenen Sieg über Frankreich stieg Preußen-Deutschland zum stärksten Akteur auf dem Kontinent auf.
Eine Großmacht im Zentrum Europas hatte aufgrund ihrer geopolitischen Lage nicht die Möglichkeit, sich aus Konflikten herauszuhalten und für neutral zu erklären, wie dies die Mächte an den europäischen Rändern tun konnten. Die Alternative dazu war eine politisch schwache Mitte, wie dies seit dem 16. Jahrhundert der Fall war – mit der Folge, dass die politische Macht in die Randzonen Europas abwanderte.
Nach der Abdankung Karls V. und der Aufteilung seines Reichs zwischen der österreichischen und der spanischen Linie der Habsburger gab es im europäischen Zentrum keinen Akteur mehr, der den Mächten an den Rändern seine politische Agenda hätte aufnötigen können. In mancher Hinsicht hätten die in Wien residierenden Habsburger eine solche Macht der Mitte sein können, aber seit dem Vorstoß der Türken bis vor die Tore Wiens waren sie zu sehr mit der Bedrohung aus dem Südosten beschäftigt, als dass sie sich nachhaltig um die Mitte Europas hätten kümmern können.
Infolge der schwachen Mitte stiegen Spanien und Schweden zu europäischen Großmächten auf, die zusammen mit Frankreich, England und dem Wiener Kaiserhaus die erste europäische Pentarchie bildeten. Ein Krieg zwischen diesen Mächten musste zwangsläufig in der Mitte des Kontinents, also in Deutschland, ausgetragen werden, was im Dreißigjährigen Krieg dann auch der Fall war. Das wiederholte sich in den napoleonischen Kriegen, als Deutschland zum politisch-militärischen Glacis [3] des französischen Kaiserreichs wurde und obendrein einen Großteil der Soldaten zu stellen hatte, mit denen der Kaiser seine Kriege führte.
Im 18. Jahrhundert schieden dann Spanien und Schweden aus dem Kreis der großen Mächte aus und wurden durch Russland und Preußen ersetzt, das seinen geographischen Schwerpunkt ebenfalls eher im Osten hatte. Die europäische Mitte blieb politisch zunächst unbesetzt.
Aus französischer Sicht stellte sich das freilich anders dar: Spätestens mit dem Aufstieg Napoleons setzte sich hier eine geopolitische Schule durch, für die Frankreich die politische Mitte des Kontinents bildete, während England und Russland dessen Flügelmächte darstellten. Die politische Botschaft dieser Sicht forderte die Stärkung der Mitte, damit sie der Bedrohung durch die Flügelmächte gewachsen war. Im Kampf gegen diese Flügelmächte ist Napoleon gescheitert. Sein Sturz ermöglichte den politischen Wiederaufstieg Preußens, das sich nunmehr nach Westen, bis nach Aachen, Köln und Trier, ausdehnte.
Von nun an rangen Preußen und Frankreich um die Position der europäischen Zentralmacht. Die Wiedererrichtung des französischen Kaiserreichs unter Napoleon III. im Jahre 1851 brachte die Franzosen in die Vorhand, bis sie dann zwanzig Jahre später durch Preußen-Deutschland aus dieser Position verdrängt wurden.
Zum zentralen Bestandteil des Ersten Weltkriegs ist dieser Kampf um die europäische Mitte jedoch nur geworden, weil es Deutschland als Macht der Mitte nicht gelungen ist, den peripheren Konflikt auf dem Balkan einzuhegen, sondern ihn mit anderen Konflikten verbunden hat. Die Probleme der Peripherie haben zur Zerstörung der Mitte geführt.
Dabei hat aber nicht allein Deutschland eine unkluge und vor allem nervöse Rolle gespielt: Weil Frankreich zu schwach war, die Auseinandersetzung mit Deutschland allein zu führen, hatte es sich seit den 1890er Jahren Russland angenähert, um schließlich mit dem Zarenreich ein gegen das Deutsche Reich gerichtetes Bündnis abzuschließen.
Von nun an schwankte die deutsche Politik zwischen einer «Politik der freien Hand» (Bernhard von Bülow), bei der man sich die Partner nach Belieben aussuchen konnte, und obsessiven Vorstellungen von einer politisch-militärischen Einkreisung, die dazu führten, dass man mit Präventivkriegsideen spielte, um den Ring der Einkreisungsmächte aufzusprengen.
Das Problem der Mitte zeigte sich auch in den nach Kriegsbeginn geführten Debatten, wer der ‹eigentliche Feind› Deutschlands sei: Russland, England oder Frankreich?
Für die Mehrheit der Sozialdemokraten, aber auch für Liberale wie Max Weber, war dies Russland, der Hort der Reaktion, die große autokratische Macht, die im zurückliegenden Jahrhundert alle emanzipatorischen und progressiven Bewegungen in Ost- und Mittelosteuropa niedergeschlagen hatte und die ihre eigenen Intellektuellen und Schriftsteller zu Tausenden nach Sibirien in die Verbannung geschickt oder ins westeuropäische Exil getrieben hatte.
Wer in Russland den Hauptgegner dieses Krieges sah, bedauerte zutiefst, dass es zum Krieg gegen England gekommen war, der dieser Sicht zufolge auf Fehler und Ungeschicklichkeiten der deutschen Politik zurückzuführen war. Dagegen sahen andere – Max Scheler und Werner Sombart etwa – in England den ‹eigentlichen› Feind, dessen «geistloser Materialismus» in Verbindung mit einem «hemmungslosen Utilitarismus» die deutschen Werte und den deutschen Idealismus bedrohe.
Man muss sich diesen deutschen Dissens über den ‹eigentlichen› Feind vor Augen führen, um die ebenso verwirrende wie widersprüchliche Kriegszieldebatte in Deutschland nachvollziehen zu können.
Die Mittellage führte zu einer Addition unterschiedlicher Ziele, die in eine Politik mündete, bei der einmal im Osten und dann wieder im Westen ein Separatfrieden angestrebt wurde. Die geopolitische Lage Deutschlands in der Mitte Europas hat auch die außenpolitischen Konstellationen der Zwischenkriegszeit bestimmt.
Das begann bei der Frage, ob das Reich eine schrittweise Wiederannäherung an den Westen anstreben sollte, verbunden mit der Rückkehr in die ‹atlantische Weltwirtschaft›, oder ob intensive Beziehungen zu dem ebenfalls vom Völkerbund ferngehaltenen und ökonomisch isolierten Sowjetrussland erfolgversprechender seien. Diese Politik führte 1922 zum Vertrag von Rapallo.
Zu diesem Abarbeiten an der deutschen Mittellage gehörten in der Zwischenkriegszeit auch die von der deutschen Generalität entworfenen Pläne für kleine Revisionskriege, in denen die in Versailles festgelegten Ostgrenzen Deutschlands wieder verschoben und ehemals zu Deutschland oder Österreich gehörende Gebiete unter Verweis auf deutschsprachige Volksgruppen «repatriiert» werden sollten.
Beides – die Hinwendung Deutschlands in den Osten und der Drang, die Nachkriegsgrenzen zu revidieren – führte schließlich zur Einkreisung der in der Ordnung von Versailles und Saint-Germain festgeschriebenen Staaten Polen und Tschechoslowakei durch Deutsche und Sowjets, deren Kooperation dann im Hitler-Stalin-Pakt gipfelte. Auf dessen Grundlage, das heißt bis zum Sommer 1941, wurden die Grenzen des «Großdeutschen Reichs» bis etwa zu der Linie verschoben, die von den deutschen Truppen bis zum Waffenstillstand vom Spätherbst 1917 erreicht worden war.
Mit der Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg gab es vorerst keine europäische Mitte mehr: Die eine Hälfte kam unter sowjetische Herrschaft, die andere unter die Dominanz der USA. Diese Konstellationen endeten 1990, und die Wiedervereinigung Deutschlands wurde zum Startschuss für das neuerliche Zusammenwachsen des Kontinents. Man kann das auch umkehren:
Ein Zusammenwachsen Europas wäre ohne die Wiedervereinigung Deutschlands nicht möglich gewesen. Infolgedessen entstand auch wieder eine europäische Mitte, deren geopolitische Relevanz jedoch durch das Militärbündnis der Nato mit den USA als Hegemon sowie die wirtschaftlichen und politischen Verflechtungen innerhalb der Europäischen Union begrenzt geblieben ist.
Mit der inzwischen begonnenen Verlagerung des US-amerikanischen Aufmerksamkeitsfokus aus dem atlantischen in den pazifischen Raum beginnt sich das zu verändern. Europa wird wieder lernen müssen, mit sich allein auszukommen, und damit wird die Position der Mitte an politischer Brisanz gewinnen: Begreift man den Großen Krieg als einen Kampf um die europäische Mitte und sieht man in dessen Zentrum den Konflikt zwischen Deutschen und Franzosen, so erhält die unter Adenauer und de Gaulle geschmiedete deutsch-französische Achse erst jetzt ihre volle Relevanz. Fasst man die Mitte weiter, so gehört Polen dazu, und die deutsch-französische Achse wird in das «Weimarer Dreieck» überführt, von dem zwar gelegentlich die Rede ist, das innerhalb der europäischen Politik vorerst aber keine größere Rolle spielt.
Folgt man dieser Sicht, so heißt das zweierlei:
"Die Last der geopolitischen Mitte" aus:
Herfried Münkler
Der Große Krieg.
Die Welt 1914 - 1918.
Mit freundlicher Genehmigung
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[1] Gemeint ist eine gewisse Anzahl dem August 1914 zeitlich vorgelagerter Konflikte, z.B. die Balkankriege 1912-13, Spannungen innerhalb des Zaren-, Habsburger und Osmanischen Reichs bzw. zwischen diesen Mächten; red. onlineakademie (oa).
[2] sinngemäß: umfassend zerstörerisch; red. oa.
[3] sinngemäß: Vorhof; red. oa.
[4] Befriedet, red. oa.