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Autor folgendes Songs ist der Ex-Rapper Denis Cuspert, vormals bekannt als Deso Dogg. Wie kommt jemand, der 2006 noch den Wunsch hegte, Gutes zu tun, dazu, in den Dschihad zu ziehen, Menschen die Köpfe abzuschneiden, Leichen zu schänden und zu Attentaten in Deutschland aufzurufen?
„Etwas läuft auf verdammt bescheuerte Art schief, gleich hier, vor der Tür, was man gar nicht richtig mitbekommt oder wenn, eben nur so irgendwie. Halb vom Hinsehen, halb vom Wegsehen.“ – so endet ein Beitrag von Robert Misik in der TAZ über einen österreichischen Dschihadisten, den 19-jährigen Firas H. „… etwas läuft auf verdammt bescheuerte Art schief“.
In der Tat, und nichts offenbart dieses Schieflaufen deutlicher als die Faszination, die der Dschihad auf junge Menschen in westeuropäischen Gesellschaften ausübt. Wie lässt sich diese Faszination erklären?
Blickt man auf die Debatte über die dschihadistische Gewalt, so lassen sich idealtypisch vier Deutungsmuster herausfiltern: Diabolisierungen, Religionisierungen, Soziologisierungen und Ethisierungen.
Diabolisierung
In einem Fernsehinterview, aufgenommen in Mossul, prophezeit der deutsche Dschihadist Christian Emde, alias Abu Qatadah, den Sieg des Islamischen Staates (IS): „Wir gewinnen durch die Furcht im Herzen unserer Feinde.“ Um diese Furcht im Herzen zu wecken, müsse man weiter fortfahren, Menschen zu köpfen. Im Plauderton spricht er davon, dass diejenigen, die sich nicht bekehren würden, sterben müssten. Das gelte vor allem für die Schiiten: „Ob 100 Millionen, 150 Millionen oder 500 Millionen – uns ist die Anzahl egal.“
Emde stammt aus Solingen und war, bevor er 2003 zum Islam konvertierte, protestantischer Christ. Der Journalist Jürgen Todenhöfer, der diverse Gespräche mit Dschihadisten führte, beschreibt ihn als den „intellektuell und ideologisch versierteste[n] Gesprächspartner. Seine geschichtlichen Kenntnisse sind umfassend. Seine Antworten sind gnadenlos und schneidend. Er hat in der Medienabteilung des IS offenbar eine offizielle Funktion […].“
Wie könnte man angesichts eines solchen Interviews, der Berichte Entkommener und der Enthauptungsvideos, vor allem praktiziert von europäischen Dschihadisten, die als besonders grausam gelten, die Dschihadisten nicht als das personifizierte Böse, eine Ausgeburt des Teufels betrachten? Dass so etwas im 21. Jahrhundert noch möglich ist, das erfüllt zu Recht mit Abscheu. Die Taten des IS stellen einen Zivilisationsbruch dar, einen Rückfall in die Barbarei.
Die Diabolisierung ist der Versuch, den Schrecken dadurch zu bannen, dass man ihm einen Namen gibt: das Böse. Überdies stärkt sie das Verantwortungsempfinden für die vom dschihadistischen Völkermord bedrohten Menschen. Aber die Diabolisierung hat auch ihren Preis. Sie bietet keine Analyse.
Wer diabolisiert, bewegt sich im Tautologischen, da von den bösen Taten auf die Bösartigkeit der Menschen geschlossen wird. Verweilt man auf dieser Ebene, dann wird man sich schwer tun, eine Erklärung dafür zu finden, warum denn so viele gewöhnliche Menschen zu bösen Menschen werden. Darüber hinaus besitzt die Diabolisierung kein selbstkritisches Potenzial. Wer diabolisiert, der externalisiert zumeist. Dadurch gerät jedoch die Erkenntnis aus dem Blickfeld, dass die bestialischsten Dschihadisten aus Europa zu kommen scheinen. Diese sind in westlichen Gesellschaften aufgewachsen und wurden hier anfällig für die Barbarei.
Religionisierung
Neben der Diabolisierung gibt es Versuche, die Gewalt zu religionisieren: Es gibt keinen Islamismus ohne Islam. Ergo gibt es auch keinen Dschihadismus ohne Islam. Diese Herleitung dient nun häufig als Nachweis dafür, dass die Gewalt, die sich im Dschihadismus offenbart, religiös motiviert sei. In der Tat, der Islam bietet einen Vorrat an Symbolen und Begriffen, die zur Legitimierung und Verschärfung des Konflikts eingesetzt werden.
Aber: Die monokausale Religionisierung der Gräueltaten verdeckt die Perspektive, dass dem Dschihadismus auch andere, vielleicht sogar ganz andere Motive zugrunde liegen.
Insbesondere der Blick auf die Profile europäischer Dschihadisten zeigt, dass der Religion im Dschihadismus keine Hauptrolle zukommt. So hat etwa das französische Präventionszentrum Centre de Prévention contre les dérives sectaires liées à l’Islam folgendes Profil typischer Dschihad-Kandidaten erstellt: „Die meisten sind zwischen 18 und 21 Jahre alt (43,3 Prozent), fast zwei Drittel von ihnen (63,3 Prozent) wuchsen in atheistischen Elternhäusern auf. In einer jüngeren Studie sind acht von zehn Gotteskriegern Kinder aus atheistischen Elternhäusern, zwei Drittel […] stammen aus Mittelschichtsfamilien.“ Viele Dschihadisten sind in Familien aufgewachsen, die nicht fundamentalistisch geprägt sind; 20 % von ihnen sind Konvertiten.
Innerhalb Europas gibt es die „meisten Rekrutierungen […] prozentual in Belgien. Dem IS sind zwei-, dreitausend Ägypter beigetreten, von 70 Millionen Muslimen. Aus Belgien gibt es 400, bei nur 400.000 Muslimen.“
Der Islamwissenschaftler Olivier Roy fasst die Erkenntnis dieser Statistik prägnant zusammen: „Das ist nicht der Nahe Osten, der sich da gegen den Westen erhebt.“
Polizei und Verfassungsschutz in Deutschland kommen zu dem Schluss, dass es unmöglich ist, für deutsche Dschihadisten ein typisches Profil zu erstellen. Die Mehrheit der Dschihadisten ist männlich, in Deutschland geboren, besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft und ist zwischen 21 und 25 Jahre alt. Die Hälfte von ihnen ist verheiratet, darunter befinden sich auch Väter mit Kindern. Ca. 17 Prozent der Dschihadisten sind Konvertiten.
Eine Reihe von Dschihadisten hat eine kriminelle Vorgeschichte. Etwa ein Viertel ist sehr gut gebildet. Sie haben Abitur oder Fachhochschulreife, ein Teil von ihnen studiert. 21 Prozent waren arbeitslos oder arbeiteten im Niedriglohnsektor. Anzumerken ist, dass nur jeder vierte Dschihadist aus Deutschland über einen Schulabschluss verfügt.
Gegenwärtig konzentrieren sich Verfassungsschutzbehörden in Deutschland bei der Ursachenanalyse stark auf den Salafismus, registrieren jedoch zunehmend, dass der Salafismus für die jungen Menschen mehr und anderes ist als Religion.
Er steht eher für „eine Jugendprotestbewegung, mehr jedenfalls als eine religiöse Erweckungsbewegung. […] die Verfassungsschutzbehörden sprechen inzwischen in diesem Zusammenhang von einem Trend zur ‚Jugendkultur‘ und zu einem neuen ‚Lifestyle‘.“
Problematisch sind Versuche der Religionisierung dschihadistischer Gewalt jedoch vor allem deshalb, weil sie sich nolens volens an der Stilisierung der Gewalt zum „Heiligen Krieg“ beteiligen, wie sie von den Dschihadisten betrieben wird, und dadurch deren Gewalt letztlich als Teil eines Krieges der Religionen aufwerten.
Soziologisierung
In zahlreichen Artikeln erscheinen die Dschihadisten als die Verarmten, die materiell und sozial Schwachen, die Ungebildeten, die Kriminellen. In einem Bericht des deutschen Verfassungsschutzes wird darauf hingewiesen, dass ca. ein Viertel der Dschihadisten keinen Schulabschluss hat, ergo: ungebildet sei. Dass ein Teil der Dschihadisten aber die Schule vorzeitig verließ, um in den Dschihad zu ziehen, relativiert diese Schlussfolgerung erheblich. Im Übrigen handelt es sich um einen Fehlschluss, wenn von der Tatsache, dass jemand keinen Schulabschluss besitzt, automatisch auf dessen Dummheit geschlossen wird.
Dumm können die Dschihadisten nämlich nicht sein, schließlich sind sie in der Lage, sich Informationen zu beschaffen. Zudem benötigen sie gewisse Sprach- und Länderkenntnisse. Darüber hinaus gibt es unter den europäischen Dschihadisten auch diejenigen, denen es, materiell gesehen, gut ging, die sich vieles leisten konnten und eine gute Zukunft vor sich hatten.
Solche Soziologisierungen dienen oft dazu, diese Gewalt an den Rand zu drängen und sie damit zu verdrängen. Derartige Versuche zielen darauf ab, die Täter aus der Mitte westlicher Gesellschaften auszuschließen.
Ethisierung
Um den Dualismus zwischen den Guten auf der einen und den Bösen auf der anderen Seite zu überwinden und die Handlungsmotive der Täter besser zu verstehen, könnte es sinnvoll sein, die Gewalt zu ethisieren. Durch die Ethisierung werden die Täter als Handelnde betrachtet, die ihrem Handeln eine Ethik zugrunde legen, in deren Licht dieses als ein gutes Handeln erscheint.
Diese Deutung bietet eine Erklärung dafür, warum sich die Täter anscheinend gar keiner Schuld bewusst sind, verhalten sie sich doch aus ihrer Sicht nicht nur richtig, sondern auch gut. Aus ihrer Perspektive gesehen sind sie die Guten und wir, die Anderen, die Bösen. Eine Ethisierung der dschihadistischen Gewalt vermag durchaus zu helfen, die Handlungsmotivationen der Täter besser zu verstehen. Sie läuft jedoch Gefahr, den Rechtfertigungen, die die Täter für sich heranziehen, zu glauben und sie somit zu bestätigen.
Die Krux der Ethisierung besteht allerdings darin, nicht mehr fähig zu sein, zwischen Ideologie und Ethik zu unterscheiden, steht doch dann eine Ethik gegen eine andere: hier die Ethik der Dschihadisten, dort die Ethik des Westens. Welche Ethik Recht behält, wird nicht Ergebnis eines Diskurses sein. Das jeweils Gute muss sich, wenn nicht anders möglich, militärisch gegen das andere Gute durchsetzen, um als das Gute Anerkennung zu finden.
Diabolisierung, Religionisierung, Soziologisierung, Ethisierung – das sind vier Deutungsweisen der dschihadistischen Gewalt.
Eine jede von ihnen enthält ein Stück Wahrheit. Für sich genommen ist eine jede allerdings nicht nur unzureichend, sondern irreführend. Anstatt den Blick in den eigenen Spiegel zu werfen, münden derlei Versuche in Vermeidungsdiskurse, die eine selbstkritische Auseinandersetzung verhindern.
Zum Autor
Jürgen Manemann (Prof. Dr.) ist Direktor des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover. Seine Forschungsschwerpunkte sind politische Philosophie, politische Theologie, Umweltphilosophie und Wirtschaftsanthropologie.
- Dieser Beitrag erschien zuerst in der Reihe „Kirche und Gesellschaft“ (Nr. 430), herausgegeben 2016 von der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach.
- Wir danken Autor und Zentralstelle für die freundliche Genehmigung.
- Fußnoten und weitere Hinweise entnehmen Sie bitte dem PDF am Ende der Seite.
- Die in dieser Publikation zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.
„Wir gewinnen durch die Furcht im Herzen unserer Feinde.“ – mit diesen Worten wurde Christian Emde bereits zitiert. Dschihadismus heißt, Menschen das Fürchten zu lehren, indem man Schrecken verbreitet. Schrecken zu verbreiten, das ist bekanntlich das Ziel eines jeden Terrorismus. Wer den Dschihadismus verstehen will, muss ihn deshalb zunächst als Terrorismus interpretieren. Terrorismus enthält eine spezifische Rationalität, die sich an seinen Funktionen ablesen lässt.
Eine der Hauptfunktionen des Terrors besteht darin, jede Beziehung zwischen den Entscheidungen der Terroristen und den individuellen Schicksalen auszulöschen.
So hatte etwa der französische Bergsteiger Hervé Gourdel, der im September 2014 in Algerien enthauptet wurde, überhaupt nichts mit den Entscheidungen der Terroristen zu tun. Dieser Hiatus zwischen den Opfern und den Terroristen macht es so schwer, wenn nicht geradezu unmöglich, die Ziele der Terroristen vorherzusehen. Der Grund solch „irrationaler“ Aktionen ist offenbar: Die Terroristen möchten das Vertrauen in das Zusammenleben der Menschen erschüttern, und zwar grundsätzlich. Sie zielen auf den Zusammenbruch der Persönlichkeit von Menschen.
Je irrationaler terroristische Handlungen erscheinen, desto rationaler sind sie kalkuliert. Man will verstören. Es gehört zum Durchsetzungspotential gerade auch des dschihadistischen Terrors, dass man seine Gräuel nicht für möglich hält. All das hat der dschihadistische Terror mit allen anderen Formen des Terrorismus gemein.
Aber das Verstörtsein angesichts der dschihadistischen Anschläge resultiert nicht nur aus der Unkalkulierbarkeit seiner Gewalt, sondern vor allem aus ihrem Überschießen, ihrer Enthemmung und Entgrenzung. Der dschihadistische Terror zielt schließlich auf Massenvernichtung.
Die enthemmende Gewalt des dschihadistischen Terrors rückt diesen in die Nähe religiöser Terrorismen, da Massenvernichtung ein Spezifikum religiösen Terrorismus zu sein scheint. Für gewöhnlich legen Terroristen Wert darauf, hervorzuheben, dass ihre Taten sich von bloßer Gewaltkriminalität abheben. Aus diesem Grund kam bislang auch kein Terrorismus ohne einen interessierten oder einen zu interessierenden Dritten aus. Dieser diente ihm zur politischen Legitimation seiner Gewalt.
Die Einbeziehung eines Dritten hat lange Zeit dazu geführt, dass Anschläge mit herkömmlichen Mitteln, nicht mit Massenvernichtungsmitteln durchgeführt wurden. Dies scheint jedoch für einen religiös motivierten Terrorismus nicht oder weniger zu gelten, braucht dieser doch nicht unbedingt einen Dritten – wenigstens nicht einen diesseitigen Dritten. Kann der diesseitige Dritte dem Terrorismus seine ideologische Basis wegziehen, indem er öffentlich erklärt, dass die Terroristen seinen Interessen zuwiderhandeln, fällt diese interventionistische Delegitimierung im Blick auf einen jenseitigen Dritten weg.
Und das gilt auch im Blick auf die Form der Anwendung der Gewalt. So gesehen, ist es nicht verwunderlich, dass der Terrorismus durch die religiöse Grundierung eine neue, eine enthemmende Dimension erhalten hat. Religiöse Terrorismen sind deshalb besonders todbringend, wie man an der Zahl der Opfer sehen kann. Diese Wirkung wird nicht zuletzt durch die Idee eines kosmischen Krieges verursacht, der keine Kompromisse kennt.
Betrachtet man den dschihadistischen Terrorismus, so hat man es allerdings mit einem komplexeren Phänomen zu tun, denn hier tritt eine Enthemmung zutage, die als Ausdruck eines religiös-extremistischen Phänomens nicht hinreichend erklärt werden kann. Dschihadismus ist ein Hass, der zum eigentlichen Lebenszweck erklärt wird und dem alles, auch der eigene Überlebenswille, untergeordnet wird. Dieser Hass wird erst nachträglich sakralisiert.
Ein solcher Hass ist Ausdruck eines aktiven Nihilismus. Aktiver Nihilismus ist die Aktivierung der Unfähigkeit, das emphatische Nein zum Nicht-Sein des Anderen zu sprechen, sogar um den Preis eigenen Nichtseins.
Oder anders formuliert: Der Dschihadismus ist die willentliche Neutralisierung der Hemmung, die Menschen unfähig macht, dem Anderen das Recht auf Leben abzusprechen.
Der Wille, den Tod des Anderen herbeizuführen, wird zum Lebenszweck, da der Täter bereit ist, dafür sein Leben zu opfern. Voraussetzung dieses Willens ist die Neutralisierung der Empathiefähigkeit.
Wer die Ursachen für den aktiven Nihilismus ergründen will, ist gut beraten, sich mit nihilistischen Tendenzen in westlichen Gesellschaften zu befassen.
Wenn heute vom Nihilismus im Blick auf westliche Gesellschaften zu sprechen ist, dann geht es um eine spezifische Lebenserfahrung: um ein Leben in erschreckender Sinnlosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Lieblosigkeit.
In ihrem zunächst verbotenen, dann mit Preisen ausgezeichneten Jugendbuch „Nichts“ erzählt die dänische Schriftstellerin Janne Teller von einer sich ausbreitenden ressentimentgeladenen Sinnlosigkeit. Die Autorin – vormals tätig als Makroökonomin – beschreibt eine Gruppe von Siebtklässlern, die durch einen Mitschüler provoziert wird, der ihnen, auf einem Pflaumenbaum hockend, tagaus tagein den Satz entgegenschleudert, dass nichts irgendetwas bedeute.
Um das Gegenteil zu beweisen, zwingen sich die Schüler, einander abzuliefern, was für sie von Bedeutung ist: Sandalen, ein Fahrrad, Zöpfe, einen Goldhamster, einen Gebetsteppich, Flagge, Kruzifix, einen Kindersarg mit den Überresten des kleinen Bruders, einen rechten Zeigefinger und so weiter und so fort. So entsteht ein Berg aus Bedeutung. Als dieser schließlich zerstört wird, kippt die Aggression der Kinder, die sich bei der Herstellung des Berges der Bedeutung aufgestaut hat, ins Mörderische um. Voller Hass wird der Provokateur umgebracht.
Die Erzählerin, eines der involvierten Mädchen, fasst die Situation folgendermaßen zusammen: „Es war sinnvoll, Pierre Anthon zu schlagen. Sinnvoll, ihn zu treten. Das hatte Bedeutung. Selbst als er am Boden lag und sich nicht mehr wehren konnte und es irgendwann auch nicht mehr versuchte.“ Aber die Worte des Ermordeten „Nichts bedeutet irgendetwas“ waren auch durch die Vernichtung des Provokateurs nicht aus dem Gedächtnis der Kinder zu tilgen.
Immer wieder ist in dem Buch von der Ignoranz der Erwachsenen die Rede, die permanent verdrängen, dass die Kinder doch schon lange erkannt hätten, dass in ihrer Welt nichts wirklich etwas bedeute, dass die Erwachsenen nur so täten, als ob irgendetwas etwas bedeuten würde.
Bedeutung entdecken die Kinder schließlich in dem, was keine Bedeutung haben sollte: Aggression, Gewalt, Mord. Das Buch handelt vom Nihilismus der Kinder, der das Produkt des Lebens der Erwachsenen und der Schule ist.
Die Kinder leiden an einem Mangel an Sinn. Sie versuchen Sinn herzustellen. Sinn, im emphatischen Verständnis, kann jedoch nicht hergestellt werden, Sinn kann sich immer nur einstellen. Wer Sinn herstellen will, produziert das Gegenteil.
Die nihilistische Gestimmtheit, die in diesem Buch beschrieben wird, ist alles andere als eine literarische Fiktion. Trotz der Abnahme jugendlicher Gewalt in Deutschland seit 2008 gibt es Formen der Gewalt, die aus einem destruktiven Begehren resultieren. Schriftsteller, Psychologen, Soziologen und auch Polizeipräsidenten sprechen von absoluter, leerer und blinder Gewalt, von Gewalt um ihrer selbst willen.
Diese Gewaltformen sind Ausdruck von Sinnlosigkeit bzw. von pervertiertem Sinn. Die neuen Gewalttäter scheinen durch ihre Tat einen Ersatz für das zu erhalten, was in der Gesellschaft zu fehlen scheint: Sinn. Die Zerstörung könnte ihnen somit ein Ultimum an Sinn bereiten. Dieser Sinn besteht aber nicht mehr im Ja zum Leben, sondern im Ja zum Nichts.
Solch aversive, gegen Andere gerichtete Verhaltensweisen treten meist individuell auf, lassen sich aber auch kollektiv mobilisieren und politisch aktivieren, wie man es im Dschihadismus sieht. Sie resultieren nicht nur aus ökonomischen Krisen. Sie sind vor allem verursacht durch echte psychische, ja geradezu spirituelle Not.
Der Dschihadismus ist nicht Ausdruck eines Kampfes der Kulturen, sondern Ausdruck einer „Kultur des Kampfes“.
In dieser „Kultur“ wird Gewalt habitualisiert. Wird Gewalt habitualisiert, dann ist sie Teil der Identität des Selbst. Am Leid und Tod des Opfers scheint der Täter eine absolute Souveränität zu erleben, die mit einer absoluten Freiheit einhergeht: der Freiheit von Moral, von der Gesellschaft, von zivilen und kulturellen Zwängen, nicht zuletzt von der Furcht vor dem Tod.
Die Leidenschaft der Gewalt ist aber nicht besinnungslos. Die Radikalisierung setzt Radikalisierungswilligkeit voraus. Der Täter „weiß genau, was er tut“ – und er will, was er tut. Durch die Selbstenthemmung erfährt er eine Selbstexpansion: Sein kleines Ich wächst über sich hinaus. Jedes Menschenleben ist sterblich. „Der Tod ist unausweichlich. Keiner entgeht ihm. […] Im Tod sind wir alle gleich. Der Tod ist […] die absolute Kraft.“ Damit kommt das kleine Ich des Dschihadisten nicht klar. Es fürchtet den Tod. Indem es den Tod an Anderen exekutiert, fühlt es sich als jemand, der an der Kraft des Todes teilhat. An dieser Kraft teilzuhaben, scheint ihm eine große Genugtuung zu verschaffen. Der Dschihadist „erlangt ein Selbstbewusstsein ohnegleichen. Er kann alles. Wer den anderen tötet, ist selbst des Todes ledig. […] Damit einher geht ein Bewusstsein negativer Souveränität“. Durch die enthemmte Gewalt scheint der Dschihadist einen „doppelten Sieg“ zu erringen, indem er die eigene Sterblichkeit und die Grenzen seiner sozialen Existenz transzendiert. Und so avanciert er zum negativen Helden. Zum Helden kann man sich jedoch nicht selbst machen, zum Helden wird man gemacht. Man denkt für gewöhnlich, solche Taten riefen Abscheu und Ekel hervor. Weit gefehlt: Sie üben Faszination aus. Der Täter erscheint als überlebensgroß. Er zieht alle Aufmerksamkeit auf sich.
Dschihadismus ist Todesbereitschaft. Aber diese Todesbereitschaft gründet in Todesfurcht. Um ihr zu entgehen, benutzt der Dschihadist den Anderen als Todableiter. Der Tod trifft immer den Anderen. Und wenn er den Dschihadisten trifft, dann nur als gemeinsamer Tod, als in den Tod rennende Masse oder als Tod in der Masse. Der in den Tod Rennende braucht sich keine Gedanken zu machen, nehmen ihm doch die Anderen das eigene Sterben ab. Zudem wirkt der Hass wie ein Delirium. Über den von Hass Trunkenen verliert der Tod seine Macht. Die Ideologie verstärkt diese Tendenzen.
Dem Dschihadisten wird die Gewalt zur Religion. Aber um was für eine Religion handelt es sich, wenn die Gewalt zur Religion wird? Eine Religion der Gewalt kennt nur noch diese. Sie macht Gewalt zu ihrer Lebensform. Dadurch entsteht eine Entgrenzung, denn eine derartige Gewalt besitzt keinerlei Realitätssinn mehr. Eine solche Gewalt lässt sich nicht aus den bekannten Formen von Religion erklären.
Der Dschihadismus teilt viele Symptome mit den europäischen Faschismen. Es ist deshalb aufschlussreich, ihn als ein Faschismus-Syndrom zu deuten.
Faschismus zielt auf die Maximierung und Ontologisierung von Ungleichheit. Seine Anhänger besitzen ein ausgeprägtes Überlegenheitsgefühl. Das Führerprinzip ist für jeden Faschismus unabänderlich.
Im Führerprinzip kulminiert zum einen die Maximierung von Ungleichheit; zum anderen verhindert gerade diese Identifikation mit dem Führer „die Entfaltung eines eigenen Selbst und dadurch die Entwicklung wahrer Selbstbestimmung und Verantwortung“.
Zum Faschismus gehört zudem eine Dauermobilisierung. Sie soll vor Lethargie schützen. Dazu bedarf es immer wieder der Personalisierung und Emotionalisierung anonymer Prozesse. Die Vereinheitlichung der Bewegung basiert auf einem paranoiden, geschlossenen Weltbild.
Ein wesentliches Moment des Faschismus-Syndroms ist, dass „die Gesamtpersönlichkeit […] mit totaler Politisierung ‚in die Pflicht genommen‘ und jede andere Loyalität (Familie, Religion, individuelles Gewissen usw.) ausgeschaltet“ wird. In der Selbstaufgabe im großen Ganzen findet das Individuum „Erlösung von Schuld und individueller Todesfurcht“. „Härte, Unduldsamkeit, Rücksichtslosigkeit werden zu Tugenden des deutlich sadomasochistischen ‚neuen Menschen‘, der unter der Maske totalen Idealismus fanatisch und nihilistisch extreme ‚Endlösungen‘ begünstigt und diese möglichst rasch herbeiführen will.“
Geht es in zivilisierten Gesellschaften um Aggressionshemmung, so im Faschismus um Aggressionserlaubnis.
Gerade im Faschismus zeigt sich ein Intimverhältnis zur Gewalt. Es gibt zwar auch andere Herrschaftsformen, die äußerst gewalttätig sind, der Faschismus verwendet jedoch „Gewalt nicht nur bedenkenlos und schnell, sondern auch lieber als andere Mittel“. Gewalt ist hier libidinös besetzt. Das Bekennerschreiben von al-Qaida zu den Anschlägen in Madrid, denen am 11. März 2004 191 Menschen zum Opfer fielen, bringt diese libidinöse Beziehung zur Gewalt auf den Punkt: „Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod.“ Bekanntlich lautete der Schlachtruf der spanischen Faschisten: „Viva la Muerte – Es lebe der Tod!“
Wer Dschihadismus bekämpfen will, der muss begreifen, dass Faschismusanfälligkeit nicht nur aus ökomischen Krisen resultiert, „Faschismusanfälligkeit ist vor allem verursacht durch echte psychische Not, durch ‚spirituelle‘ Krisen [...]“.
Wenn hier von psychischer Not gesprochen wird, dann ist damit nicht ausgesagt, dass die Täter psychisch krank seien. Diese Annahme wäre gefährlich in einem dreifachen Sinn:
- Erstens, weil sie psychisch Kranke dem Verdacht aussetzt, potenzielle Terroristen zu sein,
- zweitens, weil sie die Rationalität des Terrors nicht wahrnimmt und
- drittens, weil sie die Radikalisierungswilligkeit der Täter übersieht.
Der französische Politik- und Islamwissenschaftler Olivier Roy fordert: „Man muss nur zuhören, wie die Konvertiten, die zu Hunderten nach Syrien aufgebrochen sind, ihre Radikalisierung begründen. Sie alle sagen dasselbe. Ihr Leben sei leer gewesen, immer habe man sich über sie lustig gemacht.“
Damit sind neuralgische Probleme in gegenwärtigen westlichen Gesellschaften benannt: das sich ausbreitende Gefühl der Leere und der Exklusion. Wer also vom Dschihadismus spricht, der darf vom Nihilismus in westlichen Gesellschaften nicht schweigen.
Eine Ursachenanalyse über die Attraktivität des Dschihadismus hierzulande muss die Zunahme von Ungleichheit in der Gesellschaft berücksichtigen, ebenso Broken-Home-Situationen, insbesondere das Fehlen von Vätern, des Weiteren verspätete Rachegefühle, die aus Diskriminierungserfahrungen der Eltern und/oder Großeltern entstanden sind. Ferner sind Gefängnisse als Orte der Radikalisierung von entscheidender Bedeutung. Aber das wohl Wichtigste ist die Frage nach der psychischen Verfassung der jungen Dschihadisten.
Die Profile zeigen, dass die Dschihadisten an einem oder mehreren Punkten in ihrem Leben den Halt verloren haben. Angesprochen vom Dschihadismus werden junge Menschen mit massiven Identitätsstörungen. Dazu zählen u. a.: Gefühlsleere, Prozessmelancholie, Kontrollverlust, Fragmentkörpererfahrung.
Nihilismus beginnt, wenn Möglichkeitssinn und Endlichkeitssinn austrocknen. Anti-Dschihadismus muss die Grundlagen schaffen für die Erfahrung von Selbstwirksamkeit und die Ausbildung von Resilienz. Junge Menschen sind auf die Erfahrung von Selbstwirksamkeit angewiesen, denn diese ist die Basis dafür, dass sich Möglichkeitssinn einstellen kann: „Nur wenn, was ist, sich ändern läßt, ist das, was ist, nicht alles.“ (T.W. Adorno) Veränderung ist eine starke anti-dschihadistische Kraft.
Angesichts gegenwärtiger und zukünftiger Herausforderungen benötigen junge Menschen aber auch Widerstandsfestigkeit bzw. Resilienz. Dafür muss ein gesellschaftlicher Zustand geschaffen werden, in dem sie die Grundfähigkeiten erwerben, die sie benötigen, um ein gutes, ein gelingendes, mit einem Wort ein humanes Leben zu führen. Ein solches Leben ist ein Leben endlicher und verletzlicher Lebewesen, die ein genaues Wissen davon haben, dass ihr Leben endlich und dass ihr Zustand verletzlich ist. Von diesem Wissen ist sinnvolles Leben immer berührt.
Angesichts des Dschihadismus bedarf es deshalb einer Politik, die, wie die Philosophin Martha Nussbaum im Anschluss an Mahatma Gandhi gefordert hat, den Zusammenhang zwischen dem psychologischen Gleichgewicht und dem politischen Gleichgewicht wahrnimmt. Der politische Kampf um Freiheit und Gleichheit ist nämlich, so Gandhi, „zuallererst ein Kampf […], der im Innersten eines Menschen ausgefochten wird, da Mitgefühl und Respekt im Widerstreit mit Angst, Gier und narzisstischer Aggressivität liegen“.
Gewalt, wie sie im Dschihadismus verherrlicht wird, ist eine Reaktion auf Angst vor der eigenen Schwäche und Verletzlichkeit.Dschihadismus ist die Furcht vor dem Menschsein.
Worauf es ankommt, sind Lebensformen, „die jungen Leuten die Botschaft vermitteln, dass alle Menschen verletzlich und sterblich sind und dass dieser Aspekt des menschlichen Lebens nicht hassenswert und abzulehnen ist, sondern [das menschliche Leben auszeichnet und (J. M.)] durch gegenseitige Anerkennung und Hilfe aufgefangen werden kann“.