Nachhaltigkeit aus philosophischer Perspektive


Nachhaltigkeit aus philosophischer Perspektive

von Stephan Schmauke

  • Ist es Ihnen nicht auch schon so gegangen, dass Sie der ständige Gebrauch des Wortes „Nachhaltigkeit“ ermüdet hat?

  • Dass Sie sich gefragt haben, was „Nachhaltigkeit“ denn jetzt in diesem oder jenem Zusammenhang überhaupt bedeuten soll?

  • Dass Sie den Verdacht bekommen haben, „Nachhaltigkeit“ sei ein bloßer Marketing-Kniff von Leuten, die Ihnen was verkaufen wollen?

  • Dass „Nachhaltigkeit“ zu einer Ideologie werden könnte?



Wenn Sie sich solche Fragen schon mal gestellt haben, dann lesen Sie bitte weiter!




Dr. Stephan Schmauke (*1970) studierte Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte in Bonn und promovierte mit einer Arbeit über Kant. Nach seiner Zeit als wissenschaftlicher Assistent an der Universität Köln arbeitet er als freier Lektor, u.a. für J.H.W. Dietz Nachf. (Bonn) und Klartext (Essen), sowie als Referent für die Studienförderung der FES. 

Für die FES OnlineAkademie bloggte Stephan Schmauke 2012 sechs Beiträge und untersuchte dabei, inwiefern sich Nachhaltigkeitsfragen aus philosophischer Perspektive betrachten lassen.

Whiskey-Gläser ©Benjamin Nickel/pitopia.de

Ist Nachhaltigkeit eine Frage der Moral? (1/6)

Von Stephan Schmauke


Der Kauf fair gehandelten Kaffees ist eine gute Sache, keine Frage. Als Philosoph habe ich jedoch gelernt, dass man durch Beispiele guten Handelns nicht zu einem Wissen darüber kommt, was „das Gute“ denn nun eigentlich ist. Oder anders: Dass Nachhaltigkeit irgendwie „gut“ ist, kann ich nicht durch nachhaltiges Handeln herausfinden. Das Gute an der Nachhaltigkeit billige ich dem nachhaltigen Handeln von vornherein zu. Wodurch denn?

Eine Antwort auf die Frage, woher ich denn weiß, dass etwas „gut“ ist, lautet: Durch den allgemeinen Konsens darüber, dass bestimmte Handlungen gute Folgen haben. Der Kauf von Fair-Trade-Kaffee hat gute Folgen: Nachhaltige Landwirtschaft in den Anbaugebieten, gerechte Bezahlung für die Produzenten usw.

Offensichtlich reicht es in vielen Fällen aus, zu wissen, dass die Folgen einer Handlungsweise gut sind, um sich selbst zu dieser Art Handeln zu motivieren. Gerechte Bezahlung ist besser als ungerechte. Das philosophische Problem aber, woher das Wissen über „Gutsein“ kommt, ist damit nicht gelöst, sondern nur verschoben. Nachhaltiges Handeln ist gut durch die guten Folgen nachhaltigen Handelns, und die Folgen nennen wir gut, weil...

Eine andere Antwort auf die Frage nach dem Guten setzt deswegen anders an. Zunächst wird einmal zwischen verschiedenen Redeweisen über „das Gute“ unterschieden.

  • Offenbar kann man „gut“ im Sinne von „zweckmäßig“ verstehen: „Das hast du gut gemacht!“, sagt man z.B. zu einem Kind, das gerade gelernt hat, eine Schere richtig zu gebrauchen.

  • Oder man kann „gut“ in einem absoluten Sinne verstehen, wenn man z.B. sagt: „Der oder die ist ein guter Mensch.“ Dabei geht es offensichtlich gerade nicht um die Effektivität des Handelns, die Zweckmäßigkeit von Scheren usw., sondern um eine moralische Qualität.

Man kann das auch in Frageform darstellen: „Was soll ich tun, um Papier zu schneiden?“ - Das ist die Frage nach der Effektivität des Handelns. Und: „Was soll ich tun?“ - Das ist die Frage nach der Moralität des Handelns. Gibt es etwas, das unbedingt und unter allen Umständen zu tun ist, egal ob ich jetzt Papier schneiden will oder was auch immer ich gerade konkret so vorhabe?

Und hier kommt Immanuel Kants (1724-1804) berühmte Unterscheidung zwischen „hypothetischen Imperativen“ und dem „kategorischen Imperativ“ ins Spiel.

  • „Wenn du Papier schneiden willst, dann nimm eine Schere!“: Hypothetischer Imperativ.

  • „Handle nur nach solchen Regeln, die zugleich für alle gelten könnten!“: Kategorischer Imperativ. (In einer leicht vereinfachten Variante.)

Wenn es also so etwas wie „unbedingte moralische Pflichten“ geben sollte, wenn es „das Gute“ geben sollte, das „unter allen Umständen zu Tuende“ – etwas anderes als „das Brauchbare“, „das Effektive“ usw. –, dann würde Kants Kategorischer Imperativ die formale Bedingung für solche Handlungsregeln darstellen.

Wichtig ist hier, sich klarzumachen, dass der kategorische Imperativ wirklich nur eine formale Bedingung für „gutes“ Handeln ist. Deshalb sollte man ihn nicht mit der „goldenen Regel“ verwechseln („Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu!“). Denn die „goldene Regel“ setzt ja schon einen bestimmten Willen (oder vielleicht besser Nicht-Willen) vielleicht besser Nicht-Willen) voraus: „Was du nicht willst...“. Daher ist die „goldene Regel“ immer nur ein hypothetischer Imperativ: „Wenn du nicht gehauen werden willst, dann hau auch selber nicht.“

Nachhaltigkeit unter allen Umständen?

Eine wirklich philosophische Abhandlung zum Thema „Nachhaltigkeit“, die mehr sein wollte als ein Brevier oder Ratgeberliteratur – davon gibt es inzwischen genug –, hätte sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob Nachhaltigkeit ein absolutes Gut ist, ob es eine unbedingte moralische Verpflichtung zu nachhaltigem Handeln gibt, oder ob es dabei bleiben muss, dass Nachhaltigkeit im allgemeinen als „ganz ok“ angesehen wird, obwohl man letztlich nicht weiß, warum eigentlich.

Es ist nicht ganz leicht, bedeutsame Belege für eine philosophische Auseinandersetzung mit dem Thema „Nachhaltigkeit“ zu finden. Am ehesten fällt mir da noch Hans Jonas (1903-93) ein, „Das Prinzip Verantwortung“, wo eine allgemeine Pflicht des Menschen zur Bewahrung der Natur herausgearbeitet werden soll.

Wie alle Versuche, Kants kategorischen Imperativ mit einem Inhalt zu versehen, der ein allgemeines Verhaltensgesetz abgeben soll, scheitert Jonas‘ Versuch. Entweder wird sein Imperativ „Erhalte unsere natürlichen Lebensgrundlagen“ zu einer Banalität (à la: Säge nicht am Ast, auf dem du sitzt), oder er gibt keine Entscheidungshilfe in konkreten Handlungssituationen (soll ich jetzt Biohonig „aus EU- und Nicht-EU-Ländern“ kaufen oder regionalen Honig ohne Bio-Zertifikat? Was ist jetzt „nachhaltiger“?).

Gemeinhin macht man das Versagen dieser Versuche, aus dem kategorischen Imperativ eine inhaltlich konkretisierte Handlungsnorm für alle abzuleiten, Kants Moralphilosophie zum Vorwurf. Dabei wird eben verkannt, was ich oben betont habe: dass der kategorische Imperativ lediglich eine formale Bedingung darstellt, der Handlungsregeln genügen müssen, um als „unbedingt gut“ gelten zu können. Aus Kantischer Perspektive lässt sich kein unbedingtes Sollen, d.h. keine moralische Pflicht zu nachhaltigem Handeln begründen. Das würde ein Kantianer gegen Hans Jonas einwenden. Oder anders formuliert:

Nachhaltigkeit ist keine Frage der Moral.

Womit natürlich überhaupt nicht gesagt werden soll, dass es nicht ganz vernünftig ist, nachhaltig zu handeln. Wie ich oben schon sagte: Im allgemeinen ist es ausreichend, dass wir damit rechnen können, dass Nachhaltigkeit „im Großen und Ganzen“ gut ist.

Nachhaltigkeit ist ein Problem der Erfahrung, der vernünftigen Abwägung und des pragmatischen Handelns.

Wenn aber nachhaltiges Handeln eine Sache der Erfahrung ist, dann gibt es keinen exklusiven philosophischen Zugang dazu, dann ist ein philosophischer Beitrag zum Thema „Nachhaltigkeit“ nur einer unter vielen anderen gleichberechtigten.

Es stellt sich dann für mich – als Philosoph – die nächste Frage: Wenn Nachhaltigkeit aus moralphilosophischer Perspektive eine Nullnummer ist, gibt es noch einen anderen spezifisch philosophischen Ansatzpunkt, dem Thema beizukommen?

PDF

Ziffernblatt einer alten Uhr  ©garuda/pitopia.de

Wie lange währt Nachhaltigkeit? (2/6)

Von Stephan Schmauke

Zuletzt habe ich darüber geschrieben, dass Nachhaltigkeit keine Angelegenheit der Moral ist, weswegen sich die Frage stellt, worin denn ein spezifisch philosophischer Beitrag zum Thema noch bestehen könnte.

Nachhaltigkeit hat sicherlich mehr Bedeutungen als die weit verbreitete Rede von den „drei Säulen“ - der ökologischen, der ökonomischen und der sozialen - vermuten läßt. Mir fällt da vor allem die zeitliche Dimension ein, die offenbar in allen Varianten des Sprechens über Nachhaltigkeit zumindest unausdrücklich immer mitgemeint wird.

Nun ist das Problem der Zeit (ich meine nicht die Wochenzeitung!) ein altes philosophisches Thema. Mindestens seit Augustinus: „Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich's, will ich's aber einem Fragenden erklären, weiß ich's nicht.“ (Confessiones, 11) Stellen wir also einmal die Frage nach der Zeit, die gemeint ist, wenn von Nachhaltigkeit gesprochen wird!

Bleiben wir der Einfachheit halber bei der Forstwirtschaft, also dem Metier, aus dem der Begriff ursprünglich stammt. Wie lange lebt ein nachhaltig bewirtschafteter Wald? Wenn ihm in einem bestimmten Zeitraum immer nur so viel Holz entnommen wird, wie im gleichen Zeitraum nachwächst? Offenbar besteht dieser Wald, wenn ihm nicht äußere Naturkatastrophen oder eben nichtnachhaltige menschliche Einflüsse zusetzen, immerfort. Nachhaltiges Wirtschaften stabilisiert den Mikrokosmos, dem es seine Ressourcen entnimmt. Die „Dauer“ dieses Systems ist, sofern externe Faktoren ausgeblendet werden können, potentiell unendlich.

Nachhaltigkeit ist auf potentielle Unendlichkeit ausgelegt

Nachhaltige Entwicklung betrifft nicht nur den nächsten Tag, sondern zielt immer schon über ihn hinaus. Und über das nächste Jahr. Nachhaltigkeit zielt auf eine infinite bzw. indefinite Erstreckung in die Zukunft.

Das war es wohl, was Herr Sarkozy im Sinn hatte, als er anläßlich eines Treffens mit Frau Merkel und Herrn Monti von der „Nachhaltigkeit des Euro“ sprach. Das klingt aufs erste Hören hin sehr sanft. So wurde Sarkozys O-Ton jedenfalls vom Deutschlandfunk übersetzt (http://www.itele.fr/video/n-sarkozy-garantir-la-perennite-de-leuro , 25.11.2011). Von was Sarkozy wirklich sprach, nämlich von der „pérennité de l'euro“, klingt, wenn man es anders übersetzt, etwas besorgniserregender: Es ging offenbar um den Fortbestand des Euro, aber Google übersetzt nun mal das französische „pérennité“ mit „Nachhaltigkeit“, und der Übersetzer des Deutschlandfunks hat das vielleicht einfach nur nachgemacht, wer weiß.

Treiben wir doch ein bißchen Sprachkritik! Für das französische Substantiv „pérennité“ gibt‘s kein deutsches Äquivalent. „Fortbestehen“ oder „Fortbestand“ ist zu schwach. Man müßte schon solche Wort-Ungetüme wie „Immerwährendheit“ oder „Allezeitbestehenbleibendes“ erfinden, um die in der Nominalform sich ausdrückende Gewichtigkeit der Sache - „Perennität“ - angemessen wiederzugeben.

Jedenfalls scheint „Perennität“ in „Nachhaltigkeit“ enthalten zu sein, wenn letzteres auch keine adäquate Übersetzung davon zu sein scheint.

Von der Perennität zur „philosophia perennis“

Diese ganz spezielle Dauerhaftigkeit der Nachhaltigkeit, die im Fremdwort „Perennität“ zum Ausdruck kommt, ist in der Philosophie unter dem Stichwort „philosophia perennis“ reflektiert worden. Die „immerwährende“ Philosophie. Was ist damit gemeint?

Ganz unspezifisch bezeichnet der Ausdruck die Vorstellung, daß es sich bei philosophischen Problemen (die Wahrheit, das Gute, die Gerechtigkeit) um solche handelt, die trotz ihrer jahrtausendelangen Bearbeitung durch die unterschiedlichsten Leute (= „Philosophen“) immer ähnliche Antworten gefunden haben. Nicht immer exakt dieselben, aber zumindest vergleichbare Antworten. Das klingt z.B. auch in der Bedeutung von „Weisheit“ (gr. „sophia“) mit: Einen „weisen“ Menschen kann man sich nicht so recht in einem Wortgefecht mit einem/einer anderen Weisen vorstellen. (Das hat mich immer schon an der Szene im „Herrn der Ringe“ gestört, in der sich Gandalf mit Saruman prügelt. So was ziemt sich nicht unter „Weisen“.) Die Weisen wissen, wie der Hase läuft, und dieses Wissen ist ein gemeinsames Wissen. Lebensweisheit, Menschheitsweisheit, Weltweisheit. Weise sind über den Meinungsstreit oder den Streit wissenschaftlicher Schulen erhaben, sie sind eben nicht klug oder bauernschlau oder „smart“, sondern: weise.

Mit dem Gedanken, Philosophie sei etwas, das einen Kernbestand an immerzu gültigen Antworten auf immer dieselben Grundprobleme berge, (es komme nur darauf an, die unterschiedlichen Formulierungen dieser Antworten entsprechend auf ihr Gemeinsames hin zu interpretieren), bürdet man ihr natürlich einiges auf. Vor allem stellt man damit ihre Wissenschaftlichkeit in Frage, und zwar in dem Sinne, daß man hinsichtlich ihres „immerwährenden“ Kernbestands nicht mehr von einem Wissens-Fortschritt sprechen kann.

Ein philosophischer Text von Slavoj Žižek z.B. würde dann im Vergleich zu einem Text von Platon nichts substantiell Neues sagen; oder, im anderen Fall, wenn man Žižek eine spezifische über Platon hinausgehende Modernität zugestehen wollte, würden seine Texte insofern eben nicht zur philosophia perennis zählen können. Entweder ist ein Denken also systemimmanent (und damit nicht originell), oder es ist originell (und damit ein dem System Äußeres.)

Die immerwährende Philosophie ist ein abgeschlossenes System. Sie verträgt keine Originalität.

Und tatsächlich gibt es Philosophen, die genau diese Vorstellung von Philosophie vertreten: „European philosophical tradition ... consists of a series of footnotes to Plato.“ (Alfred North Whitehead, Process and Reality, New York 1929, S. 39.) Dieser berühmte Satz von Whitehead trifft ziemlich exakt, was diejenigen meinen, die in einem allgemeinen Sinne von „philosophia perennis“ sprechen. Mit der einzigen Einschränkung, daß er, Whiteheads Ausspruch, lediglich auf die europäische Philosophie gemünzt ist.

Der Gedanke der philosophia perennis geht aber tatsächlich noch darüber hinaus. Er meint nicht nur die zweieinhalbtausendjährige Geschichte der europäischen Philosophie, sondern alle Weisheit zu allen Zeiten: Auch religiöse, schamanische, buddhistische, hinduistische Lehren gehören zu der einen Weltweisheit, zu der einen immerwährenden Philosophie.

Zumindest Eurozentrismus scheint man also denjenigen, die von „philosophia perennis“ reden, nicht vorwerfen zu können. Sie machen keine Aussagen für eine bestimmte historische Epoche oder für eine einzelne geographische Region. Was sie sich vorstellen, ist universal, ein allumfassender Grundbestand unveränderlicher Menschheitsweisheit.

Philosophia perennis ist der nachhaltig bewirtschaftete Wald unter den Denksystemen.

Der Gedanke ist so einfach wie unspezifisch, daß man sich eigentlich wundern muss, warum er in der Geschichte der Philosophie nicht öfters aufgegriffen wurde. Tatsächlich sind ausdrückliche Erwähnungen der „philosophia perennis“ fast so selten wie philosophische Traktate zur Nachhaltigkeit.

Ich möchte trotzdem zwei historische Situationen herausgreifen, in denen Vorstellungen der „immerwährenden Philosophie“ virulent wurden, weil ich glaube, daß sie ein relativ präzises Bild davon abgeben, um was es den Leuten geht, wenn sie statische und unversalistische Begriffe wie den einer allgemeinen Menschheitsweisheit benutzen. Und insofern teilt sich dieses Denken auch der Rede von der Nachhaltigkeit mit. Mehr dazu im nächsten Beitrag.

PDF

Alte Bücher © Bernhard Hayo/pitopia.de

Kleine Zeitreise - philosophia perennis (3/6)


Von Stephan Schmauke

Im letzten Blog habe ich versucht, einen Bogen zu schlagen vom nachhaltig bewirtschafteten Wald zur „immerwährenden“ Philosophie, zur „philosophia perennis“. Ich möchte nun auf eine Zeitreise gehen und zwei historische Szenarien beleuchten, in denen der Gedanke eines „nachhaltigen“ Kernbestandes der Philosophie in der Literatur aufblitzte: Im Barock und am Beginn der Postmoderne. Wir werden sehen, was sich daraus auf den Begriff der Nachhaltigkeit rückbeziehen läßt.

Szenario 1: Barock. Leibniz.

Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1717) – Hofrat, Akademiepräsident, Diplomat, Erfinder des binären Zahlensystems, überhaupt ein Tausendsassa in allen damals bekannten Wissenschaften – korrespondiert mit Jesuiten, die an der Missionierung Chinas beteiligt sind. Er versucht, seine Briefpartner ideell zu unterstützen, indem er ihnen Argumente für ihre Position im sog. „Ritenstreit“ liefert. (Sie sehen, ich muß etwas ausholen:) Der Jesuitenorden verfolgte eine tolerant anmutende und pragmatisch ziemlich erfolgreiche Methode der Christianisierung: Zum Christentum konvertierte Chinesen durften einige ihrer alten religiösen Riten (Ahnenverehrung z.B.) beibehalten. Kritiker dieser Missionierungspraxis (vornehmlich Dominikaner und Franziskaner) befürchteten, dies würde zu einer Verwässerung der christlichen Lehre führen, zu einer Art christlichem Konfuzianismus. So kam es zum „Ritenstreit“.

Leibniz greift nun in diesem Zusammenhang einen Gedanken auf, der bereits bei den Kirchenvätern eine Rolle gespielt hatte: Wie kann man es als Christ rechtfertigen, „heidnischen“ Lehrern zu folgen? Wie kann man Platon und Aristoteles, die ja der geoffenbarten Wahrheit Gottes persönlich nicht teilhaftig geworden sind, so deuten, daß ihre Philosophien mit der christlichen Heilslehre konvenieren? - Die Lösung dieses Problems bestand darin, die antike Philosophie als natürliche Theologie bzw. als Rationaltheologie zu interpretieren (weil es zur „Natur“ des Menschen gehört, rational zu sein; Mensch als „animal rationale“).

Man hatte damit eine „prisca theologia“, eine „alte Theologie“ konstruiert, von der man behaupten konnte, daß sie auf rein rationalem Wege zu denselben Wahrheiten komme, wie sie später durch das Wort Gottes geoffenbart wurden.

Leibniz war der Ansicht, daß auch die chinesische Philosophie völlig mit der „natürlichen Theologie“ übereinstimme. Inwieweit diese Einschätzung zum tieferen Verständnis dieser Philosophie beitragen sollte, oder ob sie lediglich als Argumentationshilfe für die Jesuiten diente, muß hier offen gelassen werden. Zweifel sind jedenfalls angesichts von Leibniz' durchaus widersprüchlichen Aussagen über die chinesische Philosophie angebracht.

  • Einmal spricht er ihr jegliche Wissenschaftlichkeit ab – was er so ins Positive wendet, daß nichts daran hindere, „im guten Sinne aufzufassen, was die Alten bei ihnen über göttliche und geistliche Dinge lehren.“ (Leibniz, Briefwechsel mit Bartholomäus Des Bosses, Hamburg 2007, S. XCVII.)
  • Ein anderes Mal scheint er den chinesischen Philosophen Fuxi geradezu als Vorläufer seines eigenen binären Zahlensystems anzusehen – Fuxi habe „alle Zahlen nur mit zwei Zeichen geschrieben, wobei die eine die Einheit, die andere das Nichts bedeutete“ – was Leibniz dergestalt rationaltheologisch interpretiert, Fuxi haben zeigen wollen, „daß alles von Gott aus dem Nichts hervorgegangen sei“. (Leibniz, Briefwechsel mit den Jesuiten in China (1689-1714), Hamburg 2006, S. CXXVII.)


Ich merke hier lediglich an, daß Leibniz mit dem Hinweis auf die naturtheologischen Implikationen des Binärsystems en passant auch sich selbst empfiehlt: Seht her, auch ich widerspreche nicht der christlichen Heilslehre!

Die „natürliche Theologie“ als gemeinsame Klammer, die Leibniz zwischen der chinesischen und seiner eigenen Philosophie herstellt, bekommt in einem anderen Brief dann jenen Namen, um den es mir hier eigentlich geht: philosophia perennis. Ein Wort, das Leibniz von Agostino Steuco (1496-1548) übernommen hat.

Steuco gehörte zum „Think- Tank“ der Gegenreformation und vertrat als Bischof von Venedig die konservative Linie auf dem Konzil von Trient. In diesem Zusammenhang sind seine „De perenni philosophia libri X“ (1540) vor allem kirchenpolitisch zu lesen, als Vehikel der Ausgrenzung reformkatholischer und modernistischer Positionen, und darin dürfte auch die Pointe an Leibniz‘ Verwendung des Begriffes „philosophia perennis“ liegen: Très élégant, einen antimodernistisch konnotierten katholischen Kampfbegriff – philosophia perennis - zum Werbemittel für die eigene Philosophie umzudrehen! Seine katholischen Briefpartner werden sehr geschmunzelt haben.

Szenario 2: Postmoderne. Huxley.

Aldous Huxley (1894-1963) – Autor von „Brave New World“, einem Klassiker des dystopischen Romans, und von „Doors of Perception“, einem Klassiker der Drogenliteratur – beendet 1946 ein Buch mit dem Titel „The Perennial Philosophy“. (Seit Steuco hat es sowas nicht mehr gegeben!)

Das Buch ist eine Anthologie von taoistischen, buddhistischen, hinduisti-schen, islamischen und christlich-mystischen Texten, die von Huxley thematisch gruppiert und (kurz) kommentiert werden. (Aus der jüdischen Tradition ist nichts dabei.) Die Themen decken dabei das ganze metaphysische Spektrum ab, sie reichen von „Wahrheit“, „Selbsterkenntnis“ und „Freier Wille“ über „Gott in der Welt“, „Glaube“, „Gebet“ bis zu „Sakrament“ und „Spirituelle Übung“. Huxley legt Wert darauf, daß es sich nicht um eine Anthologie wissenschaftlicher Texte handelt. Das, um was es ihm in diesem Buch geht: die Erfahrung einer göttlichen Realität als Grundlage allen Seins („a divine Reality substantial to the world of things and lives and minds“), ist ihm eben kein Produkt metaphysischer Spekulation, sondern ein Produkt der spirituellen Inspiration. („If one is not oneself a sage or saint, the best thing one can do … is to study the works of those who were“.)

Zwei Aspekte der „philosophia perennis“ haben sich seit Leibniz geändert:

  • Der Ausblick über die Grenzen der christlich-abendländischen Literatur hat sich seit dem Barock quantitativ erweitert. Er geht nicht mehr nur nach China, sondern tendenziell (und ein wenig unsystematisch) überall hin.
  • Und, wichtiger: Die „immerwährende Philosophie“ wird nun nicht mehr als Rationaltheologie verstanden, nicht mehr als ein Parallelprogramm zur christlichen Offenbarungstheologie, sondern sie wird selbst zu einer Art Offenbarungstheologie, allerdings zu einer Offenbarungstheologie nicht-christlicher Art. Huxley öffnet der philosophia perennis die Tür zur Mystik, Esoterik und zum Okkulten.


Verstehen kann man das nur durch einen Blick auf die biographischen Begleitumstände der Entstehung von Huxleys Buch. 1938 hatte er Jiddu Krishnamurti (1895-1986) kennengelernt, ein ehemaliges Mitglied der indisch-theosophischen Gesellschaft, das als kommender Messias ausgerufen worden war und nun, desillusioniert, aber spirituell durchaus nicht ausgebrannt, als ein gegen das Gurutum jedweder Art predigender Guru in Kalifornien lebte. Ein Jahr später wurde Huxley Mitglied bei einer Ramakrishna-Gruppe in Hollywood, schrieb Zeitschriftenartikel und hielt Vorträge, und die Kritischeren seiner Zeitgenossen interpretierten „The Perennial Philosophy“ schon kurz nach Erscheinen als Werbebotschaft eines mystizistischen Proselytenmachers.

Und was hat das alles mit Nachhaltigkeit zu tun?

 

Die philosophia perennis ist, ich habe es in meinen früheren Blogs schon angedeutet, ein Randphänomen der Philosophiegeschichte. Außer in den beiden von mir kurz angeleuchteten Momenten am Beginn und am Ende der Moderne, bei Leibniz (bzw. Steuco) und bei Huxley, taucht sie begrifflich eigentlich nie auf.

Das sollte uns aber nicht daran hindern, Rückschlüsse auf den Begriff der Nachhaltigkeit zu ziehen – immer vorausgesetzt, man gesteht Philosophen zu, überhaupt etwas zur Nachhaltigkeitsdebatte beitragen zu können, und man findet den Zusammenhang zwischen Nachhaltigkeit und philosophia perennis nicht überhaupt ganz künstlich.

Ich beende mein heutiges Blog also mit einer Reihe von Stichwörtern zum Begriff „philosophia perennis“, von denen jedE LeserIn selbst sehen mag, ob sich davon etwas auf den Begriff der „Nachhaltigkeit“ übertragen läßt.

 

  1. philosophia perennis ist eine Theologie (bei Leibniz: natürliche Theologie, Rationaltheologie, prisca theologia als Alternative zur Offenbarungstheologie; bei Huxley: indisch-mystische Offenbarungstheologie, wobei nicht klar ist, wer sich da offenbart.)

  2. philosophia perennis hat integrierenden / inkludierenden Charakter. Theorien werden einem bestimmten Werthorizont zugesellt (Leibniz inkludiert Plato, Aristoteles, die Chinesen, die Modernen; Huxley inkludiert tendenziell jede mystisch inspirierte Rede von Gott gehört zu der einen Wahrheit)

  3. philosophia perennis ist totalitär und monistisch (Alles läuft auf die eine Wahrheit Gottes hinaus)

  4. philosophia perennis dient werblichen Zwecken (Leibniz wirbt für das Binärsystem, Huxley für Ramakrishna)

  5. philosophia perennis ist begrifflich ein Phänomen der europäischen Moderne


PDF

Energiesparleuchten © Spectral-Design/pitopia.de

Alles richtig gemacht! (4/6)

Von Stephan Schmauke

Wer meine ersten drei Blogs gelesen hat, dürfte ein Gefühl dafür bekommen haben, daß mir aus philosophischer Sicht nicht ganz wohl bei der inzwischen allzu kurrenten Rede von Nachhaltigkeit ist.

Ein - wenn man so will - philosophisches Modell von Nachhaltigkeit, dessen historische Entstehungsumstände ich zuletzt angesprochen habe, könnte dazu taugen, doktrinäre Aspekte der neugrünen Denke zu entdecken: Nachhaltigkeit als Heilsbotschaft, in die sich alles Mögliche einfügen läßt, vom chinesischen Ahnenkult bis zum Binärsystem, ein modern-dumpfes Wir-Gefühl erzeugend, inklusive Schulterklopfgeste und der diffusen Zuversicht, daß mit dem Kauf des richtigen Honigs im Bioladen das Welternährungsproblem „ein Stück weit“ gelöst werde.

Gesettelte Vierzigjährige, die sich im Glanz ihres Solarpaneels sonnen

Zugegeben: Auch ich falle im Alltag auf diese, wie ich sie nenne, „Nachhaltigkeitsdoktrin“ herein. Ich gehöre zu jener Spezies, die ihre Küchenmesser auf japanischen Wassersteinen abzieht (statt neue Billigmesser zu kaufen, wenn die alten stumpf geworden sind). Meine Pfeffermühle ist zwar nicht so groß wie ein afrikanisches Männerbein (ein Wort von Rainald Grebe), aber das Mahlwerk muß dann doch von einem namhaften französischen Automobilhersteller stammen (nein, nicht Citroën...) - Wo ich gerade bei Rainald Grebe bin: Kennen Sie den? Wenn nicht, sollten sie! Die intrinsische Lächerlichkeit derjenigen, die auf die Nachhal-tigkeitsdoktrin hereinfallen, ist ein Lieblingsthema von ihm. Gesettelte Vierzigjährige, die sich im Glanz ihres Solarpaneels sonnen. Grebe ist einer, der Nachhaltigkeit „mit Humor nimmt“ (gemütlich ausgedrückt), einer, der Lieder darüber „macht“, wie man so sagt, und eines davon will ich jetzt einer Art Plattenkritik unterziehen.

„Alles richtig gemacht“ ist der Titel eines Songs auf der jüngsten Platte von Rainald Grebe und der „Kapelle der Versöhnung“, bestehend aus Marcus Baumgart (g), Martin Brauer (dr) und Serge Radke (b). Die Platte heißt programmatisch „Zurück zur Natur“ und ist seit Herbst 2011 auf dem Markt (erschienen bei Versöhnungsrecords, Berlin). Das Cover ist – natürlich – komplett grün, ein Rabe (schwarz) blickt von rechts unten auf die BetrachterIn, und der Titel ist in genau jener Type gesetzt, die bei KonsumentInnen gewisser Naturkosmetikprodukteeinen hohen Wiedererkennungswert haben dürfte (Weleda, um das Kind beim Namen zu nennen). Die meisten Songs drehen sich um die neuartige Erlebniswelt, in welche Großstadtbewohner eintauchen, wenn sie dem urbanen, Burnout-bedrohten Stressleben entfliehen können und - „aufs Land“ ziehen. Da wird dann Dinkelbrot im selbstgemauerten Ofen gebacken und vor dem reetgedeckten Haus gekifft. Aber es gibt selbstverständlich auch Schattenseiten des Landlebens: Die selbstgezogenen Tomaten wollen nicht gedeihen und der Bauer fährt auf dem Feld nebenan die Gülle aus. Dies ist das Setting.

„Alles richtig gemacht“ ist der zehnte Track auf der CD, was keinen besonderen Informationswert hat, aber für Leute, die - ganz nachhaltig - ihren alten Plattenspieler nicht weggeschmissen haben, erschließt sich sofort der Gehalt dieses Hinweises, wenn ich sage: Das Lied ist eigentlich der Opener der zweiten Seite (der wirkliche Opener ist ein Zwölf-Sekunden Witz, in dem Grebe das Aussterben der Blauwale begrüßt, was man als Intro zu „Alles richtig gemacht“ ansehen kann).

Es geht um „Klaus“, der alles richtig macht. Schon die Namenswahl zaubert dem Kenner des Grebeschen Werkes ein Lächeln auf die Lippen. „Klaus“ ist ein Veteran in den Texten Grebes: „Klaus“ reimte sich schon auf die Zeile: „Rock’n’roll sieht anders aus“ (in: „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen“), „Klaus“ war einer von vier Langeweilern in „Dreißigjährige Pärchen“ beim Verzehr von rohem Fisch auf kaltem Reis mit Algen, „Klaus“ hat bei Grebe ein festes Image: Das des ungebrochenen, nicht durch übermäßiges Nachdenken irritierten Korrekthandlers, stylebewußt, im gerade angesagten Szene-Viertel wohnend, Bio-Konsument, Besitzer besagter Peffermühle. Und nun, erste Zeile des neuen Liedes:

Klaus hat seinen Stromanbieter gewechselt

Alles klar. Die Musik dazu: Ein leicht zurückgenommener Dance-Soul, bei dem einem durchaus James Brown in den Sinn kommen kann (nicht der kieksende, der jazzige James Brown), es swingt und es wiegt sich sanft vor und zurück. Grebe bräuchte das textlich gar nicht mehr zu kommentieren, man spürt: Der Klaus macht einen sanften Freudentanz, weil er den Stromanbieter gewechselt hat, und Grebe-Fans wissen ja, von welcher Sorte der Klaus ist.

Das Klausische in uns

Klaus ist so wie wir. Für alle diejenigen, die den Klaus noch nicht kennen, oder die den Klaus-in-sich noch nicht kennen, oder das Klausische in uns, singt Grebe dann aber gleich:

Er hat jetzt sauberen Strom

Nur Wind, Wasser, Sonne und Scheiße

Ein Schelm, wer jetzt denkt, daß es sich bei „Scheiße“ um einen verbalen Fauxpas Grebes handele, gemeint habe Grebe sicherlich „Biogas“, und nur wegen des Reimschemas... Nein! Grebe hätte ja auch etwas von „regenerierbarer Energie“ dichten können, das Reimschema kann man immer passend machen, es hätte höchstens Timingprobleme gegeben. Neinnein: Der Witz wäre raus! Grebe ist jemand, der die Dinge beim Namen nennt, und der auch wertende Konnotationen seiner Wortwahl nicht scheut. Biogas ist Scheiße, irgendwie, und daß das groß geschrieben ist, hört man ja nicht beim Singen. Weiter:

Klaus hat heut Energiesparlampen erworben

...Grebe betont das „erworben“, als würde er mit spitzen Fingern singen („er-wôrbn“). Man sieht förmlich den Klaus, wie er als kritischer Verbraucher die effizientesten Premium-Produkte aus dem Glühlampenregal herauspinzettiert. Und wie nur je ein abgespreizter kleiner Finger beim Teetrinken oder Lampenkauf geistiges Biedermeiertum symbolisiert, lautet die Gegenzeile:

Seine Wohnung ist gedämmt gedämmt gedämmt

Nur seine Wohnung?, fragt man sich.

Bräsig-tänzelnde Selbstsaturiertheit

Und so, in diesem Stile, geht es weiter: Grebe zählt auf, was der Klaus alles so macht – seinen Jeep abmelden („Jêêp“), regionale Produkte kaufen, Kleidung aus fair gehandelter Baumwolle tragen, Urlaub im Harz buchen (statt nach Hawaii zu fliegen), auf Wannenbad und Fleisch verzichten („Verzichten rockt“)... alles nicht falsch, wie ja auch der Songtitel signalisiert, aber durch die Darbietung Grebes bekommt all dieses Richtigmachen – all dieses „nachhaltige“ Konsumieren und dieses sich dabei einstellende Zufriedenheitsgefühl – einen so schrägen Touch, daß man gar nicht anders kann, als über den Klaus – also über das Klausische in uns selbst – zu lachen. Es ist vor allem die bräsig-tänzelnde Selbstsaturiertheit, die vom ganzen Sound des Liedes getragen wird, und die textlich in der Zeile kulminiert:

wenn die Welt untergeht, dann lag es nicht ihm.

„Es lag nicht an iiihm“, singt die Backgroundsängerin (Anja Öhning), Klausens definitives mit-sich-selbst-ins-Reine-gekommen-Sein schrill unterstreichend. Das hat etwas von Kasperletheater, ist aber immer noch durch den JB-artigen Backbeat von pfeffermühlenartiger Eleganz. Das Strophenende wird von Grebe eingeleitet mit den Worten:

Die Sonne lacht, die Sonne lacht
Das hat er fein gemacht.

...so fein, wie man ein kleines Kind lobt, dem man über den Kopf streichelt. Mini-Generalpause. Dann kommt der Refrain, der Sound wechselt von Soul zum Ska:

Gute Nacht, gute Nacht, gute Nacht
Ich hab heut' alles richtig gemacht

Am Ende: Marschmusik

Klaus wird euphorisch, sein selbsgefälliges Wiegen mündet in einen Veitstanz. Das nachhaltige Richtigmachen verläßt seine soulige Nonchalance und wird germanisch. (Ska ist ja nichts anderes als überschnelle Marschmusik.)

Grebe hat ein feines, musikalisches Gespür für so was. Wenn er in seinen Texten von einer spezifisch deutschen Begeisterung für nachhaltiges Wirtschafteln sänge, würde das vermutlich ganz schnell schal werden. Die Songs bekämen dann einen Biermann-artigen Charakter, und das ist, glaube ich, das letzte, auf was Grebe hinauswill. Man muß eben nicht immer nur sagen: dies und das ist falsch, man kann auch immerzu Dinge wiederholen, die jemand richtig gemacht hat. Alles, alles richtig gemacht, alles, alles richtig gemacht, alles, alles richtig gemacht... wie ein Mantra.

Und es eben musikalisch andeuten, durch Stilwechsel, daß dieses totale Richtigmachen, dieses ingenieursmäßige Richtigmachen, eine besondere germanische Note hat, hörbar in allen deutschen Konzertsälen, wenn das Publikum im Takt zu klatschen anfängt. „Rhythmuswechsel!“, ruft Grebe in solchen Situationen, in denen er spürt, daß es den Leuten ganz kannibalisch wohl zu werden beginnt.


Das ist, ich wage es zu sagen: große Kunst. Schlusskommentar Grebes (in Richtung aller Kläuse Deutschlands, die alles richtig gemacht haben):

Herzlichen Glückwunsch. Gratulation

Und Tusch. --- Also, wenn sie mal über das Thema Nachhaltigkeit lachen wollen: Kaufen sie diese Platte!

PDF

LOHAS - Nachhaltigkeit als Lifestyle (5/6)

Von Stephan Schmauke

Als ich begann, mich mit dem Thema Nachhaltigkeit zu beschäftigen, redete ein Freund von mir, Inhaber einer Werbeagentur, von „LOHAS“ - ein Wort, das ich bis dahin gar nicht kannte. Um meiner Ignoranz abzuhelfen, drückte er mir ein Buch in die Hand, ich möge das mal lesen, und anschließend könne ich ihm ja sagen, was drinstehe, er selbst habe keine Zeit für sowas...

Das Buch heißt: „Lohas. Bewusst grün – alles über die neuen Lebenswelten“, ist von Anja Kirig und Eike Wenzel, und auf dem Titel ist ein iPhone abgebildet, auf dessen Display saftiges Gras zu sehen ist. (Anja Kirig/Eike Wenzel, Lohas. Bewusst grün – alles über die neuen Lebenswelten, München: Redline Verlag, Finanzbuch Verlag 2009).

Um was geht es?

Lifestyle of Health and Sustainability

Der Ausdruck „LOHAS“ stammt von amerikanischen SozialforscherInnen und ist eine Abbreviatur für „Lifestyle of Health and Sustainability“, auf deutsch also ungefähr: gesunde und nachhaltige Lebensweise. Die SoziologInnen destillierten diesen Lebensstil aus den Aussagen einer Gruppe von Leuten, die sie in ihrer Studie aus dem Jahr 2000 als „The Cultural Creatives“ identifiziert hatten. Denken sie jetzt aber bitte nicht an die deutschen „Kulturschaffenden“, die „Dichter und Denker“ usw.! Der amerikanische Begriff der „cultural creatives“ ist viel umfassender, als es der hiesige Bildungsbürger wahr haben möchte. Im weiten Sinne gehören alle Menschen, die in der „Kreativwirtschaft“ arbeiten, zu den „kulturell Kreativen“.

Aber ich möchte mich jetzt hier gar nicht auf metasoziologische Minenfelder begeben oder eine Diskussion über die unterschiedlichen Kulturbegriffe dies- und jenseits des Atlantiks vom Zaun brechen. Ich halte mich an das Buch von Kirig und Wenzel und will einige der Eindrücke schildern, die ich bei seiner Lektüre gewonnen habe.

Konsumtrend oder Wertewandel?

Zuerst dachte ich ja, daß LOHAS lediglich ein Wort für einen Konsumtrend sei, für den sich eigentlich nur Marketingspezialisten interessieren würden. Doch die AutorInnen stellen unmißverständlich klar, daß es sich um mehr handelt. Nachhaltigkeit als Lifestyle zeige einen „Mentalitätswandel“ an, ja, einen „Wertewandel“ in der deutschen Gesellschaft: „Wenn wir uns in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts über das Doppel ,Wohlstand für alle und Demokratie‘ definiert haben, dann werden wir uns in naher Zukunft über eine ,neue Verabredung mit der Natur und ein neues Gesundheitsideal‘ definieren“ (60).

Da ist was dran. An Erhards Versprechen des „Wohlstands für alle“ glauben wir spätestens seit den 1980er Jahren nicht mehr, aber immerhin sollte es uns zu denken geben, wenn es wirklich stimmen sollte, dass wir uns nicht mehr über den Begriff der Demokratie definieren sollten.

Sind die LOHAS politikfeindlich? Oder zumindest nicht mehr an Politik interessiert? Und was soll das überhaupt heißen, eine „neue Verabredung mit der Natur?“

Kirig / Wenzel beziehen das einerseits auf das Verschwinden der Mentalität des „schuldhaften Müllsortierens“ und den Beginn einer neuen Lust an der Natur jenseits düsterer Waldsterbens-Prognosen. Andererseits ist der Beleg für diese neue „Naturlust“, den sie anbringen, ein wenig seltsam. Sie verweisen nämlich auf die seit Jahren steigenden Umsatzzahlen der Outdoorbranche. Der verstärkte Run auf bestimmte Produkte taugt meines Erachtens aber nicht dazu, einen „Wertewandel“ innerhalb der Gesellschaft aufzuzeigen. Denn dieses Argumentationsmuster übersieht, das es sich um ein von der Industrie erzeugtes künstliches Bedürfnis handeln könnte. Die Outdoorbranche hat es zwar geschafft, mich zum Besitzer dreier Rucksäcke zu machen, doch meine Lust an Aufenthalten im Freien ist dadurch, glaube ich, nicht größer geworden.

Oder, um ein weiteres Beispiel zu nehmen: Apple hat es geschafft, eine unglaubliche Gier nach iPhones, iPods und -Pads zu entfachen. Zeugt dieses Rückeroberung von Marktanteilen, die immer noch von Microsoft dominiert werden, von einem „Wertewandel“? „Während der Microsoftrechner Verzeichnisse erstellt und Daten verwaltet, hilft mir der Apple in Zusammenhängen zu denken … mich und meine Arbeiten besser zu verstehen.“ Apple-Geräte führen die Autoren auf „neue Wege der Selbstkompetenz“ … „Apple- Computer schmücken unsere Räume, wir lassen sie gerne in unsere Privatsphäre hinein, weil sie unser Leben angenehmer machen. Das drückt sich eigentlich nicht im minimalistischen Design aus. Umgekehrt: Es hat damit zu tun, wie der Computer oder der iPod oder das iPhone uns designen.“ (Kirig/Wenzel, S. 41, Hervorh. von mir.)

Präziser kann man gar nicht den Verdacht in Worte fassen, dass die LOHAS durch die Produkte definiert werden, die sie konsumieren, und nicht umgekehrt. Definiert durch Produkte, die irgendwie „besser“ sind. Die kritische Verbraucherforschung nennt das: Identitätsbildung durch die Negation von Andersheit, verbunden mit dem Gefühl der Superiorität:

Natürlich ist ein aus nachhaltiger Baumwolle geschneiderter Designer-Rucksack der Plastiktüte vom Supermarkt überlegen, natürlich ist Apple schöner als Microsoft. Und natürlich fehlen den Marketingexperten auch nicht die Worte für das Kaufverhalten der Anhänger der LOHAS-Lifestyles: Sie sind „selbstkompetente Prosumer“ und Angehörige der neuen „Verantwortungs- und Genusselite“ (S. 15).

Und so sieht das dann aus:

„Im angesagten Notting Hill tauchten mit einem Mal SUV fahrende hippe Frauen auf, gekleidet in ,engagierten‘ Stella-McCartney-Jacken, die auf ihren veganischen Stilettos balancierend Fairtrade-Café-Latte schlürften, um anschließend zum Green-Babyshop oder der Organic Pharmacy auf der King's Road zu schlendern. Am Abend trifft man diese ,grünen Göttinnen‘ im Duke of Cambridge ... [es folgt eine Internet-Adresse], ... Englands erstem Bio-Pub... Die weibliche Inhaberin … trägt Öko-Designerklamotten … empfielt Dr. Hauschka … [Internetadresse] … und trägt ansonsten uralte Juwelen, natürlich nur aus ethischen Gründen, versteht sich.“ (S. 52 f.)

Vom Wert zum Mehrwert

Wahrscheinlich ist meine Fragestellung, ob es sich bei dem Phänomen LOHAS lediglich um einen Konsumtrend oder um so etwas wie einen gesellschaftlichen Wertewandel handle, künstlich. Unter den Bedingungen der globalisierten Marktwirtschaft werden Werte eben vom Markt gesetzt. Und ein sich veränderndes Konsumverhalten ist unter diesen Umständen tatsächlich ein Indikator für sich verändernde Wert-Präferenzen.

Der Markt hat den Mehrwert der Nachhaltigkeit für sich entdeckt, und die VerbraucherInnen springen auf den Zug auf.

Was mir aber immer noch nicht einleuchten will, ist die eingangs erwähnte Politikferne der „selbstkompetenten Prosumer“. Veganische Stilettos sind vielleicht lediglich „fashion statements“, aber sie könnten auch Ausdruck eines politisch motivierten Umweltbewussts sein. Wie unterscheidet man das? Dieser Frage möchte ich demnächst nachgehen.

PDF

Zur Sozialisation der kritischen Verbraucher (6/6)

von Stephan Schmauke

In diesem letzten Nachhaltigkeits-Blog möchte ich einige der Themen, die ich meinen bisherigen Beiträgen angesprochen habe, auf die gesellschaftliche und politische Meinungsbildung der „LOHAS“ zurückbeziehen.

Auf das „Mindset“ der durchschnittlichen BioladenbesucherIn also, die meint, mit dem Kauf ethisch korrekter Produkte nicht nur sich selbst, sondern der ganzen Welt etwas Gutes zu tun. Dass ich diese Konsumhaltung kritisch sehe, dürfte inzwischen deutlich geworden sein (ich halte den Kauf „ethisch korrekter“ Produkte nicht für einen Ausdruck besonderer Moralität). Dass ich hier zum Schluss ein gerüttelt Maß an Spekulation einbringe, möge man mir nachsehen.

Emanzipationsgeschichten sind immer Abgrenzungsgeschichten, Auflehnungsgeschichten gegen vermeintliche oder tatsächliche Inhaber (politischer) Macht. Das naheliegendste Beispiel: Emanzipation der Kinder durch Infragestellen des Machtanspruchs der Eltern/Lehrer. Es gibt Leute, die immer noch „bloße“ Kinder und nichts weiter als Kinder sind, die also nicht ihrer Kinder-Rolle entwachsen sind, weil sie nie den Spruch „Unser Vati ist der Beste“ angezweifelt haben. Sie können sich durchaus hie und da über Vati ärgern, sich sogar hie und da über Vati lächerlich gemacht haben, aber das ist nie so weit gegangen, daß er dabei nicht immer im Hinterkopf „der Beste“ geblieben wäre...

Die heute 70-jährigen hatten es da vergleichsweise leicht, denn deren Vatis (und Muttis) mit ihrem bekannten, faschistisch geschulten autoritären Charakter boten eine gute Folie, um sich dagegen abzusetzen. Was aber hatten die heute 40-jährigen? Ihre Eltern waren bereits zur genüge entnazifiziert. Die Elterngeration der 1970er Jahre war nicht mehr offen faschistisch, sie war selbst schon im Wirtschaftswunderland aufgewachsen und trachtete danach, dass es ihren Kindern noch besser gehen sollte als ihnen selbst schon. Mit dem Käfer an die Adria – das bestimmte den Horizont ihres Begehrens. Oder vielleicht gar mit dem Ford Taunus?

Anja Kirig und Eike Wenzel, deren Buch ich im letzten Blogbeitrag zu besprechen begonnen habe, leisten Beachtliches auf dem Gebiet der popkulturellen Bildungsgeschichte der LOHAS. Der heute 40-jährigen also, die in zweierlei Hinsicht über ihre Elterngeneration hinausgereift sind:

  • Sie glauben nicht mehr an politische Utopien (wie vor ihnen die 68er),
  • und sie glauben nicht mehr an ein Wirtschaftswunder (wie vor ihnen die Adria-Fraktion).


Das heißt jedoch nicht, dass sie an Politik und Ökonomie kein Interesse mehr hätten! Es heißt vielmehr, dass sich die politischen und ökonomischen Akzente ihrer Vorstellungswelt verschoben haben: An die Idee des Gemeinwohls glauben sie nicht mehr, umso mehr aber dafür an das Konzept Eigeninteresse. Am interessantesten ist dabei, was Kirig und Wenzel gerade verschweigen: die neokonservative Politik-Wende der 80er Jahre, die mit ihren entpolitisierenden und verbiedermeiernden Tendenzen zur Herausbildung dieser Mentalität beigetragen haben.

Konzept Eigeninteresse

Paradigmatisch stehen dafür zwei Personen, „Roman Z.“ und „Anna P.“ aus dem Prenzlauer Berg, die, wenn sie keine real existierenden Menschen sein sollten, von den AutorInnen nicht besser hätten erfunden werden können:

„Der Lebensentwurf von Roman Z. und Anna P. ist eine Mischung aus Bildungsbürgertum, Studenten-WG und moderner Neo-Aristokratie. Bildungsbürgerlich, weil man sich auf hohe Qualifikation und hohes Gehalt verlassen kann. Studenten-WG, weil die Haus- und Familienarbeit (wie natürlich auch die Erwerbsarbeit) zwischen Mann und Frau geteilt wird. Neo-aristokratisch, weil für zeitliche Engpässe und um Abhängigkeiten und Frustrationen zu vermeiden, selbstverständlich eine kolumbianische Nanny zur Verfügung steht, die die Tochter auch ein wenig mit Spanisch vertraut machen soll.“ (Anja Kirig/ Eike Wenzel, Lohas. Bewusst grün – alles über die neuen Lebenswelten, München: Redline Verlag, Finanzbuch Verlag 2009, S. 15.)

Das politische Engagement von Anna und Roman besteht darin, dass sie eine Elterninitiative gegründet haben, um den Kindergarten, den ihre Tochter besucht, wenn sie nicht gerade von der „kolumbianischen Nanny“ in Spanisch unterrichtet wird, mit einer Sauna auszustatten.

Eine Sauna für den Kindergarten

Ich glaube nicht, dass sie das aus moralischen Gründen gemacht haben. Ich könnte mir jedoch vorstellen, dass das Gelingen des Projekts „Kindergartensauna“ in ihnen ein ähnliches Gefühl der Zufriedenheit hervorruft wie der Genuss eines fair gehandelten Edelmokkas: Man gönnt sich etwas Gutes und hat auch der Welt etwas Gutes getan. Gesundheit für unsere Kinder und faire Preise für die Kaffeebauern.

Wahrscheinlich haben Anna und Roman vom Prenzelberg nicht die Absicht, ganz Deutschland mit Kindergartensaunen vollzustellen; da ist das „Konzept Eigeninteresse“ schon davor! Die Gefahr, die von solch neo-aristokratischem Spießertum ausgeht, ist eine ganz andere: Leute, die auf der ungesunden Seite des Lebens stehen, geraten momentan generell in die Defensive – ökonomisch wie argumentatorisch. Dabei muß man die Nicht-LOHAS gar nicht mehr mit der Utopie einer gesünderen oder gerechteren Welt behelligen, man will das ja auch nicht mehr, denn spätestens Ende der 80er hat man ja gelernt, dass die Utopien scheitern – es reicht, ganz pragmatisch darauf hinzuweisen, dass die Sauna faktisch gesünder ist als die Zigarette, dass der fair gehandelte Edelmokka faktisch besser schmeckt als Billigkaffee vom Discounter.

Der totalitäre Aspekt eines zur Ideologie werdenden Nachhaltigkeits-Lifestyles liegt auf der Hand, wenn diejenigen, die sich keine Sauna oder keinen Edelmokka leisten können, marginalisiert werden. Gefährlich wird’s dann, wenn Dreijährige zum wöchentlichen Saunagang verpflichtet werden und Billigkaffee verboten wird. Natürlich will das niemand in Gesetzesform gießen. Aber gesellschaftliche „Do“s und „Don‘t“s werden bereits in dieser Richtung formuliert.

Könnte es sein, dass es sich dabei wirklich um ein neues Biedermeier handelt, das seiner soziopolitischen Anlage nach bis in die 80er zurückreicht?

PDF

Bilder: Benjamin Nickel/Whiskeyglas, Garuda/Uhr, Bernhard Hayo/Buchrücken, Spectral-Design/Energiesparlampen, Ulrike Steinbrenner/Kuh, Photographie GDH/Einkaufswagen (alle Pitopia.com)