Nun, die Erkenntnis, dass es sich bei „geographischen Grenzen“ letztlich immer um geopolitische Absteckungen von Herrschaftsgebieten handelt, ist nicht neu. Es kann aber nicht schaden, sich das am Beispiel des europäischen „Subkontinents“ noch einmal anhand zweier exemplarischer Landnahmen, die jenem disparaten Gebilde namens „Europa“ seine Gestalt gegeben haben, zu veranschaulichen.
Hierzulande ist die Geschichte der phönizischen (=libanesischen) Königstochter namens Europa, die vom „Göttervater“ Zeus nach Kreta verschleppt und - selbstredend - geschwängert wurde, durch den schwäbischen Pfarrer Gustav Schwab (1792-1750) populär geworden. Bemerkenswert ist, dass Schwabs „Sagen des klassischen Altertums“ (1838-1840) als ein „Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur“ gelten. Was mag den Bürgerkindern des Biedermeier wohl durchs Kleinhirn gegeistert sein, wenn sie diese Stuttgarter Variante der Götter- und Heldensagen gelesen haben? Für seine Nacherzählung des Europa-Mythos bedient sich Schwab vornehmlich bei Ovid, bei dem die ursprüngliche Bedeutung der Geschichte für die griechischen Kolonisation des Mittelmeerraums kaum noch eine Rolle spielt (dazu später). Ovid (und Schwab) geht es mehr um die poetische Beschreibung der psychophysischen Befindlichkeit des „Göttervaters“.
Hier die Ultrakurzfassung.
Zeus (bzw. römisch: Jupiter) hat Europa zusammen mit ihren „Gespielinnen“ am Strand irgendwo zwischen Tyrus und Sidon geortet und wird von Amors Pfeil getroffen. Freilich: Europa ist noch ein Kind, folglich kann er „nicht hoffen, den unschuldigen Sinn der Jungfrau zu bethören“. Was also tun? Er verwandelt sich - nicht in ein weißes Kaninchen, sondern in einen weißen Stier: „bläulichte, von Verlangen funkelnde Augen rollten ihm im Kopfe.“ Europa erschrickt zuerst vor solchem Testosteronausstoß, hält dem Stier aber dann ihr Sträußchen hin: „Der Stier leckte schmeichelnd die dargebotenen Blumen und die zarte Jungfrauenhand, die ihm den Schaum abwischte, und ihn liebreich zu streicheln begann. Immer reizender kam der herrliche Stier der Jungfrau vor, ja sie wagte es und drückte einen Kuß auf seine glänzende Stirne.“ Und obwohl der Schaum schon abgewischt wurde, reichts dem Jupiter noch immer nicht. Er legt sich hin, Europa steigt auf seinen Rücken, und im Galopp geht’s Richtung Meer und hinein!
Der Stier schwimmt „wie ein Schiff“, bis zum Abend, die ganze Nacht durch, und noch einen Tag, bis er endlich „gegen Abend“ Kreta erreicht, seine Beute ablädt, kurz verschwindet und in Männergestalt wieder auftaucht. Unumwunden stellt er sich als „Beherrscher der Insel Kreta“ vor und macht dem Mädchen klar, dass er von nun an ihr Zuhälter ist. Dass er sie „schützen werde, wenn er durch ihren Besitz beglückt würde.“ Erschöpft gibt sie ein „Zeichen der Einwilligung“ und fällt in Ohnmacht. (1)
Gustav Schwab, ein pädophiler Pornograph? Auf jeden Fall einer, der Spaß am Ausformulieren von Schaum, Schweiß und Potenzgetue hat ... „Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur“ ...
Was den (kindlichen oder erwachsenen) Leser_innen Schwabs entgeht, entgehen muss, sind aber die unterschiedlichen (und teilweise widersprüchlichen) Varianten des Europa-Mythos, die uns mit einer Reihe von Männernamen (Väternamen: Phönix, Agenor; Brüdernamen: Kadmos, Phönix und Kilix; Namen von Söhnen: Minos, Rhadamanthys, Sarpedon) versorgen, die allesamt mit bestimmten Regionen des Mittelmeerraums in Verbindung gebracht werden können. Das geht bei Homer (8. Jahrhundert v. Chr.) los und endet ungefähr bei Appolodor (1. Jahrhundert n. Chr.).
Das kann man ganz akademisch formulieren: „Autoren des fünften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts etwa standen maßgeblich unter dem Eindruck und Nachwirken der Ereignisse der sogenannten Großen Kolonisation und der großen Kriege, erst der Perserkriege, dann der Peloponnesischen Kriege. Seit dem Hellenismus hingegen fanden in den Darstellungen die Expansions- und Migrationsschübe sowie Städtegründungen, die aus dem rund zehnjährigen Eroberungsfeldzug Alexanders des Großen resultierten, ihren Reflex. Es kam nun zu immer mehr mediterraner Mobilität auch ohne kriegerischen Anlass; zur Kommunikation der Poleis untereinander, wobei indigene Gemeinschaften freiwillig den Status griechischer Poleis annahmen. Diese Entwicklung fand nachhaltigen narrativen Niederschlag: Durch Erzählen zahlreicher Geschichten wurden die ursprünglich nichtgriechischen Gemeinschaften in die griechische Geschichte integrativ-hellenisierend eingebunden – nicht zuletzt mittels Konstruktion von Verwandtschaftsbeziehungen.“ (2)
Europas Brüder und Söhne stehen also für griechische Kolonialgebiete. Ob diese tatsächlich in zunehmendem Maße seit der Zeit des Hellenismus durch friedliche „mediterrane Mobilität“ hellenisiert wurden, oder ob sie doch in der Mehrzahl durch gewaltsame Eroberungen der archaischen Zeit griechisch wurden, kann ich nicht entscheiden. Jedenfalls sprechen die Inhalte der griechischen „Erzähl- und Erinnerungskultur“ eher dafür, dass hier Gewalt im Spiel war. Gewalt, die in erster Linie Frauen angetan wurde. (Wer mehr darüber erfahren möchte, wie sich die griechische Landnahme zu den Erzählungen der Inbesitznahme von Frauen verhält, lese statt Prof. Renger lieber Theweleit.) (3)
Herodots gespielte Verwunderung über die Frauennamen der Kontinente - „Ich weiß auch nicht, warum man eigentlich den Erdteilen, die doch ein zusammenhängendes Land sind, drei Namen gibt, und zwar Frauennamen.“ - verkennt den politischen Charakter der Grenzziehungen. Dass die rein geographischen Grenzen Europas schwierig zu ziehen sind, gibt er unumwunden zu. Das eine „zusammenhängende Land“ Lybia/Asia/Europa ist, wie er mehr mutmaßt als dass er es erforscht haben könnte, allenfalls durch Flüsse unterteilt. Herodot gibt verschiedene (ihn selbst nicht überzeugende) Vorschläge wieder, die Grenze zwischen Europa und Asien entlang des „kolchischen Phasis“ zu ziehen oder entlang des „maiotischen Tanais“. Irgendwo ums Schwarze Meer herum, wo die „kimmerischen Hafenplätze“ liegen, wird sie schon zu finden sein, die Grenze zwischen Europa und Asien... (4)
Europas „Ostgrenze“ lag dann auch – geographisch konsequent - über 2000 Jahre lang im Unbestimmten zwischen der „kolchischen Phasis“ und dem „maiotischen Tanais“, d.h. zwischen dem Fluss Rioni, der heute in Georgien liegt, und dem Don. (Diese geographische Unbestimmtheit ist der Grund dafür, weshalb Geographen auch nicht vom europäischen Kontinent sprechen, sondern von der eurasischen Kontinentalplatte.)
Stellt man nun aber die Frage, wo denn heute die Grenze zwischen Europa und Asien liege, also die „innereurasische“ Grenze, dann berufen sich Geographen gerne auf einen der ihren, der eine historische Grenzziehung vorgenommen hat. Sie berufen sich auf Philipp Johann von Strahlenberg, erstes Viertel des 18. Jahrhunderts.
Strahlenberg veröffentlichte die Ergebnisse seiner geographisch-kartographischen Bemühungen, ergänzt um historische, ethnographische und sprachwissenschaftlichen Studien (sowie um die gebührenden Lobpreisungen des Zarenhauses der Romanows) im Jahre 1730 in Stockholm auf Deutsch. Der Titel seines Buches ist es wert, in ganzer Länge wiedergegeben zu werden:
Insonderheit die „grosse richtige Land=Karte“ mit ihrer neuen Grenzziehung zwischen Asien und Europa war es, die Strahlenbergs Namen in die Hall-of-Fame der Geographie eingeschrieben hat. Man darf vermuten, dass Strahlenbergs Forschungsreisen, die er als schwedischer Kriegsgefangener in Russland unternehmen durfte, eine Auftragsarbeit für Peter den Großen war. Sie hatte das Ziel, das Gebiet zwischen dem Schwarzen Meer und dem Kaspischen Meer durch eine offizielle Grenzverschiebung nach Osten hin nicht nur geographisch, sondern auch politisch zu befrieden.
Peter der Große gilt als Modernisierer Russlands, d.h. vor allem als Europäisierer Russlands. Dazu gehörten unter anderem Reformen, die die Gebiete der russischen Gouvernements neu absteckten. Interessanterweise geschah dies in zwei Reformschüben, die drei Jahre vor Beginn bzw. drei Jahre vor dem Ende der geographischen Reisen Strahlenbergs stattfanden. Also zeitgleich stattfanden. In der ersten Gouvernementsreform von 1708/09 wurde das ganze Staatsgebiet in acht Gouvernements aufgeteilt. Diese Dezentralisierung hatte militärstrategische Gründe: Für den Fall, dass die neue Hauptstadt St. Petersburg kriegsbedingt belagert werden oder in die Hände der Kriegsgegner fallen sollte, müssten die übrigen Gouvernements noch handlungsfähig sein. Zu diesem Zwecke verordnete Peter, dass die Steuereinnahmen der Gouvernements den Kriegskassen der Gouverneure zukommen sollten. Man kann sich denken, was unmittelbar nach dieser Reform passierte: Die Gouverneure wurden Peter in den nächsten Jahren allzu reich, sodass er in der zweiten Gouvernementsreform von 1719 deren Macht wieder beschnitt, indem er die Gouvernements in 50 Provinzen einteilte, deren Vorsteher, die Voivoden, die Steuereinnahmen an den Gouverneuren vorbei direkt nach Petersburg leiten sollten.
Aus all dem kann man nur entnehmen: Die von Strahlenberg „geographisch erkundeten“ Grenzen waren schon vor seiner Expedition politisch abgesteckt. Bzw.: Strahlenbergs geographische Großtat war eine Begleiterscheinung der politisch motivierten Europäisierung Russlands, eine willkommene „wissenschaftliche“ Begründung für die Innenpolitik des Hauses Romanow.
Natürlich denken wir heute vor allem an die Europäische Union, wenn von „Europa“ die Rede ist, und nicht mehr so sehr an Europa-und-den-Stier, geschweige denn an Philipp von Strahlenberg. Was diese alten Geschichten aber zeigen, ist: Die Grenzen Europas sind politische Grenzen, und sie sind nur scheinbar fix. Nehmen wir den drohenden „Brexit“. Der wird, wenn er denn stattfindet, Europas Grenzen in gewisser Weise verändern.
Nun werden viele einwenden, dass Europa doch nicht mit der Europäischen Union (EU) gleichgesetzt werden dürfe. Immerhin gibt es viele europäische Staaten, die keine Mitgliedsländer der EU sind: Neben der Schweiz und Norwegen sind das Albanien, Andorra, Bosnien und Herzegowina, Island, Kosovo, Liechtenstein, Mazedonien, Moldawien, Monaco, Montenegro, San Marino, Serbien und Vatikanstadt, die europäischen Staaten der ehemaligen Sowjetunion nicht eingerechnet.
Gewiss gehören all diese Staaten zu Europa, ohne EU-Mitglieder zu sein. Da aber, wie mit dem Europa-Mythos und der Strahlenberg-Geschichte zu zeigen versucht wurde, Europa immer schon ein politisches Gebilde war, ist es durchaus legitim, von einer europäischen Veränderung zu sprechen, wenn sich die EU verändert, sprich: vergrößert oder verkleinert.
Anders formuliert: Europa ist für uns heute ohne die Europäische Union gar nicht mehr vorstellbar.
Nun sind die EU-kritischen Stimmen zur Zeit vernehmbarer denn je. Der „Brexit“ ist da nur die Spitze des Eisbergs, zumal in Rechnung gestellt werden muss, dass die Briten seit ihrem Eintritt in die damals noch EWG genannte politische Union (1973) ihre von Alters her gepflegten Vorbehalte gegen das sogenannte „Kontinentaleuropa“ hatten, von dem sich Großbritannien ja immer schon unterscheiden wollte, und sei es auch nicht mehr aufgrund einstiger Weltmachtambitionen, sondern nur noch, um anders zu frühstücken.
Die EU wird kritisiert als bürokratische, intransparente, überreglementierte, ineffiziente und kostenintensive Institution, welche die nationalstaatlichen Souveränitäten unterminiere, absurde Normierungen durchsetze (Stichwort: Salatgurke) und letztlich unter einem Demokratiedefizit leide (Stichwort: Lobbyismus).
Wenn wir die EU ganz abstrakt als ein Bündel von Verträgen ansehen, die ihre Mitgliedsstaaten zu etwas verpflichten, (und die übrigens auch die Nicht-Mitgliedsstaaten verpflichten, insofern sie vertragliche Beziehungen zu den EU-Staaten haben), dann ist es zunächst einmal ein Rechtsverstoß, diese Verträge zu brechen. In diesem Sinne ist die EU (bei aller Kritikwürdigkeit) doch der rechtliche und politische Rahmen, innerhalb dessen sich jegliche europäische nationalstaatliche Politik zu bewegen hat.
Mögen die Briten immer sagen, sie hätten keinen Bock mehr auf die EU, sie wollen keine Freizügigkeit innerhalb Europas mehr, sie wollen keine Einwanderer aus Polen mehr, so müsste ihnen dabei doch klar sein, dass die Verträge, die nicht nur Gurken, sondern auch die Grundprinzipien des europäischen Binnenmarktes betreffen, (und dazu gehört die Freizügigkeit nun mal, ob sie es wollen oder nicht), dass diese Verträge nicht von heute auf morgen für null und nichtig erklärt werden können.
Der „Brexit“, wenn er denn überhaupt realisiert wird, kann also gar nicht darin bestehen, dass sich die Briten von jetzt auf gleich gänzlich außerhalb der europäischen Rechtsgemeinschaft stellen. Genau deswegen stehen Europa langwierige Verhandlungen ins Haus, in denen der derzeitige rechtliche Status Großbritanniens (EU-Mitglied) in den zukünftigen rechtlichen Status (Großbritanniens „neues Verhältnis“ zur EU) überführt werden muss.
Denn dass Großbritannien und die EU in einen Zustand der Rechtlosigkeit geraten - und das heißt seit der klassischen Vertragstheorie nach Thomas Hobbes: in einen (wie auch immer in der Praxis gearteten) Kriegszustand -, das kann ja selbst der abgeschmackteste „Brexit“-Befürworter nicht ernsthaft wollen.
Allen austrittswilligen Europäer_innen müsste klar sein: Die unmittelbare „Alternative“ zur Europäischen Union wäre ein Zustand europaweiter Rechtlosigkeit.
Europa wird sich verändern, wenn die Briten durch die Ankündigung ihres EU-Austritts langwierige Veränderungen der europäischen Rechtsgemeinschaft einleiten. Und damit komme ich zum Anfang zurück.
Bilder: Europa aus dem Weltall (intrepix/pitopia.de); Entführung der Europa - Anteilige Ansicht eines 5-DM-Scheins (1948) (wikipedia); Alte Landkarte mit Kompass (JanPietruszka/panthermedia); EU-Flagge auf Hauswand (yoka66/panthermedia)