WAS IST EUROPA? Über die Kultur

Von Stephan Schmauke



Das allermeiste, was man serviert bekommt, wenn von „europäischer Kultur“ die Rede ist, sind Namen „großer Männer“, die auf ihrem jeweiligen Gebiet Höchstleistungen geliefert haben. In der Literatur: Shakespeare, Goethe, Schiller. In der Musik: Bach, Mozart, Beethoven. Malerei: Leonardo, Michelangelo, Rubens. Oder, damit alle mit einem „D“ anfangen: Descartes, Dickens, Dostojewskij.

Jetzt könnten diese Triaden beliebig um weitere Männernamen ergänzt und somit ein hochkultureller Kanon nachbuchstabiert werden – wenn es denn hier um Hochkultur ginge.

"Hochkultur"

Um diese „Hochkultur“, die in Frankreich übrigens etwas kritischer „legitime Kultur“ genannt wird, um damit anzudeuten, dass es jeweils die herrschende gesellschaftliche Klasse ist, die definiert, was als Kultur zu gelten hat und was nicht, soll es hier aber gerade nicht gehen. (1) Wer so etwas will, kann einen x-beliebigen „Kulturführer“ lesen.

Kultur gehört aus marxscher Sicht – und diese marxsche Perspektive wurde ja bereits am Schluss des Textes zu Europas Wirtschaft kurz erwähnt, weshalb ich sie hier zwanglos wieder aufgreife – Kultur gehört zum „Überbau“. Also zu jenen Diskursen, Institutionen und Wertesystemen wie dem „Rechtssystem“, der „Verwaltungsstruktur“, den schulischen „Lehrplänen“ usw., derer sich die Menschen bedienen, um mit den jeweiligen wirtschaftlichen Verhältnissen (der „Basis“) klarzukommen.

  • Ist die ökonomische Basis der Feudalismus, werden wir es also mit einer mittelalterlichen Ständekultur zu tun haben: Keine gothische Kathedrale ohne Leibeigenschaft.
  • Ist die Basis der Merkantilismus, werden wir es mit einer höfischen Kultur zu tun haben: Keine „Feuerwerksmusik“ ohne Absolutismus.
  • Ist die Basis der Kapitalismus, haben wir es mit einer bürgerlichen Kultur zu tun: Keine „Buddenbrooks“ ohne Industrielle Revolution.

"Schizo-Analyse"

Gilles Deleuze und Felix Guattari haben in den 1970er Jahren die Formen des spezifisch bürgerlichen Anpassungsverhaltens an das kapitalistische Wirtschaftssystem aus psychoanalytischer Sicht analysiert und dabei den Begriff der Schizophrenie in den Vordergrund gestellt.

Der „Schizo“ als Typus ist bei ihnen allerdings kein behandlungsbedürftiger Psychiatriepatient, kein „klinischer Fall“, sondern vielmehr die Projektionsfläche möglicher Fluchten aus den Zumutungen, die eine kapitalistisch basierte Kultur ihren Subjekten auferlegt.

(Alles andere hieße ja, die gesamte kapitalistisch wirtschaftende Menschheit gehöre in die Psychiatrie! Wer wöllte denn sowas?)

Die „Schizo-Analyse“ dient als Gegenentwurf zur klassischen Psychoanalyse, die für Deleuze/Guattari immer wieder auf den Ödipuskomplex rekurriere und dadurch selbst eine Anpassung an kapitalistische Repressionsformen darstelle: „... statt an der wirklichen Befreiung mitzuwirken, ist die Psychoanalyse Teil jenes allgemeinen bürgerlichen Werkes der Repression, das darin besteht, die europäische Menschheit unter dem Joch von Papa-Mama zu belassen und nie mit diesem Problem zu brechen.“(2)

Mit dem „Anti-Ödipus“ lieferten sie den Jugendbewegungen, die später unter der Signatur „68er“ zusammengefasst wurden, gleichsam die Theorie nach. Eine Theorie der Ausbruchsversuche aus der repressiven Welt des miefigen Klein- oder Großbürgertums, der autoritären „Erwachsenen“, die den Militarismus des späten 19. und den Faschismus des frühen 20. Jahrhunderts in den Knochen hatten. (Und zwar natürlich nicht nur in Deutschland, sondern in ganz West-Europa, Prag mit einbegriffen).

O-Ton eines „Schizos“: „...man würde nicht so werden wie diese Alten, verklemmt, bösartig in ihrer Mischung aus Sauberkeitsmoral und politischem Dreck, den sie überall auf der Welt angerichtet sahen durch alle und jeden, bloß nicht durch sie selber.“ (3)

Man wollte nicht wie Ödipus seinen Vater erschlagen und damit selbst nur die Rolle des Patriarchen beerben, man wollte schlicht und einfach mit diesen Fascho-Altvorderen nichts mehr zu tun haben.

Möglich geworden wäre diese Jugendbewegung, die natürlich nicht von allen Jugendlichen der 50er und 60er Jahre mitgetragen wurde; darauf weise ich hin, um den Freunden von statistischen Jahrbüchern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen; es gibt natürlich immer „Jugendliche“, die schon als Greise geboren werden, als Blinde und Taube..., möglich geworden wäre „68“ nicht ohne einige besondere Umstände.

Es dürfte klar sein, dass eine gegen die Eltern opponierende Jugend unter faschistischen Lebensbedingungen sich kaum entfalten kann. Folglich wäre es in Europa kaum zur 68er-Bewegung gekommen, wenn die Faschisten den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätten.


Rockmusik als Statement

Ein Weiteres kam hinzu: Dass nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA die „Jugend“ als gesellschaftliche Größe (und eigenständige Konsumentengruppe) ausgerufen wurde – die „Babyboomer“.

Eine Generation, die, so die These des amerikanischen Kulturwissenschaftlers Lawrence Grossberg, die Rockmusik als Ausdrucksmittel benutzte, um den Zumutungen der amerikanischen Erwachsenenwelt etwas eigenes entgegenzusetzen, einen Punkt zu markieren, von dem aus ihre eigene Stimme vernehmbar werden konnte. „Rock verkündete, dass die Jugend die Langeweile, Überwachung, Kontrolle und Normalität der normalen Welt als ihre eigene imaginäre Zukunft ablehnte.“ (4)

Diese Rockmusik wurde in Europa dankbar aufgenommen:

„I hope I die before I get old!“,

scholl es dann von dort zurück, der verklemmten Erwachsenenwelt den Stinkefinger zeigend. (5)

Jimi Hendrix 1967


Nun ist die Bezeichnung „Rock“ für die Musik der Jugendkultur der USA und Westeuropas aus musikwissenschaftlicher Perspektive etwas zu präzisieren.

Denn wenn hier von „Rock“ gesprochen wird, könnte man meinen, es sei ausschließlich von „weißem“ Rock'n'Roll, Bluesrock, Hardrock und Heavy Metal die Rede.

Im Sinne der Cultural Studies Grossbergs umgreift „Rock“ aber nicht nur diese Spielarten der Musik, sondern das ganze Feld popkultureller Musik, insbesondere auch die „schwarze“ Musik: Blues, Rhythm and Blues, Soul, Funk, Disco, HipHop.


Rockformation

Grossberg schreibt deswegen auch genaugenommen nicht vom „Rock“ als subkulturellem oder jugendkulturellem Musikstil, sondern er spricht genauer von der „Rockformation“.

Sein eigentliches Thema ist, wie es möglich wurde, dass sich die musikalischen Ausdrucksweisen, die ursprünglich als Ausdrucksmittel der Jugend gegen das Establishment funktionierten, umgepolt werden konnten zu einem das Establishment tragenden Medium.

Wie der „Rock“ seinen Biss verloren hat. Wie es zu so etwas wie „Mainstream“ kommt. Wie der Versuch, sich frei zu fühlen, zu einem Konsumgut gemacht wird.

Jimi Hendrix

Zu Amalgamierungen „schwarzer“ und „weißer“ Musik, wie sie im Wort „Rockformation“ mitgemeint sind, ist es tatsächlich nicht so oft gekommen.

Eine Ausnahme (in mehrfacher Hinsicht) ist Jimi Hendrix. Seine Musik transzendiert die musikalischen Rassengrenzen, aber es gelingt ihr noch etwas ganz anderes, worauf zwei Hendrix-Hörer hingewiesen haben:

„In Hendrix' Musik verlöscht der Ideologie-Körper des zwanzigsten Jahrhunderts, der Gehorsamkeitskörper der faschistischen Blöcke wie auch der Zurichtungskörper der sozialistischen Überzeugungsgarden.

Alle beide, in hohem Maße eliminatorisch-mörderisch, verschwinden im elektrifizierten Body jüngerer Bevölkerungsteile auf Aufbruchskurs nach dem Zweiten Weltkrieg. Rock ist die Musik westlicher Demokratien in ihren postnationalen, prätechnokratischen Öffnungs-Phasen. Den (gewünschten) Übergang aus den bürgerlichen Industriegesellschaften in eine 'sozialistische Revolution' gibt es faktisch nicht.

Es gibt aber den Übergang aus dem formierten Körper in einen individuell vibrierenden; drogengefährdet, hedonistisch, sexualisiert, kunstinfiziert, semitolerant, verantwortungsfrei. Rock ist die Musik, die ihn strukturiert; Hendrix-Musik seine eindringlichste wie schwebendste Verkörperung.“(6)

Der Strom, der in Hendrix Stratocaster floss, lieferte einer friedlicheren Generation Energie, als der Strom, der in die Kriegsproduktion eingespeist worden war.

Rock ist eine friedlichere Musik als die Marschmusik der Weltkrieger.

Eine Liebeserklärung. Man kann ihr nachspüren oder auch nicht. 

Immerhin kann sie dabei helfen, zu verstehen, was diese Art von Musik zu einer genuinen Ausdrucksform der westlichen Nachkriegsjugend gemacht hat.

Die Elektrogitarre ist nicht nur über den Atlantik gekommen, sondern hat auch die Grenzen des „eisernen Vorhangs“ durchstoßen.

Wenn es eines Symbols „westlicher Kultur“ bedürfte, dann wäre jedenfalls die Elektrogitarre ein heißer Anwärter.

Anmachende Jugendkultur

 

So etwas hat der „Osten“, gemeint ist nicht den mittlere oder ferne Osten, sondern den „Ostblock“, nie zustande gebracht.

Der Stalinismus war nicht in der Lage, dem „westlichen“ Rock eine ähnlich anmachende Jugendkultur entgegenzuhalten.

Sehr zum Leidwesen der dort Machthabenden.

Der Lipsi

1959 – Bill Hailey war auf dem Zenit seiner Karriere, Elvis Presley machte gerade seinen Militärdienst in der Bundesrepublik – versuchte die DDR, eine eigene Tanzmode gegen den beliebten Rock'n'Roll zu etablieren. Wie es sich in einem wohlverwalteten Staat gehört, wurde dazu eine „Tanzmusikkonferenz“ einberufen, auf der vier Leute aus Leipzig den neuen Tanz präsentierten, der fortan die DDR-Jugend begeistern sollte: Der „Lipsi“. Drei oder vier Songs wurden aufgenommmen, eingespielt von coolen Bands wie dem „Rundfunk-Tanzorchester Leipzig“.

Aber die Platten „verkauften sich nicht“, wie man so sagt. (Wie auch: Es war staatlich verordneter Unfug, keine aus der Jugend selbst kommende Ausdrucksform.)


Sechs Jahre später, 1965, der „Lipsi“ war noch in seinem Geburtsjahr an plötzlichem Kindstod gestorben, während der Rock'n'Roll zum Bluesrock herangereift war und die „Beatlemania“ ihren Höhepunkt hatte, versuchte es die DDR-Regierung nicht mehr mit Zuckerbrot, sondern mit der Peitsche: Dem "XI. Plenum des ZK der SED" folgte das Verbot etlicher Filme, Theaterstücke, Bücher - und natürlich Rockbands.

Walter Ulbricht, wie immer rhetorischer Großmeister, wenn es darum ging, betonkopfmäßiges Nicht-auf-der-Höhe-der-Zeit-Sein in goldene Worte zu gießen:

  • Walter Ulbricht, DDR-Staatsratsvorsitzender (1965)



    "Ist es denn wirklich so, dass wir jeden Dreck, der vom Westen kommt, nu, kopieren müssen? ...

  • Walter Ulbricht, DDR-Staatsratsvorsitzender (1965)



    ... Ich denke, Genossen, mit der Monotonie des Yeah Yeah Yeah und wie das alles heißt, ja, sollte man doch Schluss machen."

Das „Yeah Yeah Yeah“ wanderte verordneterseits dorthin, wohin es sowieso gehört: In den popkulturellen Underground, bereit, zum Identifikations- und Kultobjekt zu werden.

"E"- und "U"-Musik

Rock, das haben die kulturpolitischen Entscheidungsträger der DDR eben nicht geschnallt, lässt sich weder von oben verordnen noch unterdrücken. Er lässt sich auch nicht vom Standpunkt eines elitären Kulturverständnisses als etwas „Minderwertiges“ abtun.

Kulturkritische Richtersprüche über die sogenannte Populärkultur wie beispielsweise das Verdikt über den Jazz von Adorno, wurden mit zugestopften Ohren geschrieben.(7) Adorno reihte sich mit seiner bornierten Gleichung „Jazz“= „Primitive Rhythmen, die den Geschmack des dummen Massenpublikums bedienen“ unfreiwillig in die bildungsbürgerlich-elitäre (und besonders in Deutschland gepflegte) Tradition der Unterscheidung zwischen „E“- und „U“-Musik ein, die ab 1903 von einer „Anstalt für musikalisches Aufführungsrecht“, einem Vorläufer der GEMA, eingeführt wurde, um bessere Tantiemen für Komponisten der „ernsten“ Musik auszuhandeln.

Eine Kategorisierung von Wirtschaftsjuristen also, nicht von Musikliebhabern, notwendig geworden durch das (bereits lange zurückliegende) Ende des musikalischen Subventionswesen der höfischen Kultur und das Siechtum der biedermeierlich-bürgerlichen Hausmusik, der „Kammermusik“.

Wahrscheinlich handelt es sich nur um eine (rassistische?) Abwehrreaktion des europäischen Bürgertums gegenüber einer ursprünglich aus Afrika kommenden Musik, die von den „kulturlosen“ USA nach Europa exportiert wurde. Übrigens nicht erst in den 1960er Jahren: Schon kurz nach dem 1. Weltkrieg kam afroamerikanische Musik nach Europa, eben der von Adorno so heftig abgewehrte „Jazz“.

Wenn die schwummerige Rede von einer „westlichen“ (und nicht bloß „europäischen“) „Kultur“ überhaupt auf etwas verweist, das einem nicht peinlich sein muss, dann vielleicht auf das „rayonnement culturel“ (8) der ursprünglich afroamerikanischen Musik.

Die Wiege der europäischen Kultur steht in Afrika. Dieser etwas pathetische Satz soll auch deswegen hier das Resümee sein, weil man ansonsten, will man etwas über die „die Kultur Europas“ schreiben, der Gefahr unterliegt, dass daraus unter der Hand fast unvermeidlich eine Geschichte des Exports eurozentrischer Superioritätsvorstellungen herauskommt, von den „alten Griechen“ bis Bach, Mozart und Beethoven. Der Brockhaus notierte 1854:

„Europa ist seiner kulturhistorischen und politischen Bedeutung nach unbedingt der wichtigste unter den fünf Erdtheilen, über die er in materieller, noch mehr aber in geistiger Beziehung eine höchst einflussreiche Oberherrschaft erlangt hat.“

Solche Sätze sind aus heutiger historischer Perspektive nicht nur obsolet, sie sind auch hinsichtlich ihrer ideologischen Aufladungen längst von Autor_innen postkolonialistischer Theorien bzw. der „critical whiteness studies“ dekonstruiert worden. Wer heute noch die „europäische Kultur“ gegen andere „Kulturen“ ausspielen will, macht sich einfach nur lächerlich.

Fußnoten

1) Pierre Bourdieu, La distinction. Critique sociale du jugement, Paris 1979; deutsch: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/M. 1982.
2) Deleuze/Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt/M. 1974, S. 65.
3) Klaus Theweleit, Salzen & Entsalzen. Wechsel in den sexuellen Phantasien einer Generation, in: Ghosts. Drei leicht inkorrekte Vorträge, Frankfurt/M. 1998, S. 107.
4) Lawrence Grossberg, We gotta get out of this place. Rock, die Konservativen und die Postmoderne, Wien 2010, S. 175.
5) The Who, My Generation. 1965.
6) Klaus Theweleit / Rainer Höltschl, Jimi Hendrix. Eine Biographie, Berlin 2009, S. 16.
7) Theodor W. Adorno, Über Jazz, in: Gesammelte Schriften Bd. 17, Frankfurt/M. 2003. (Zuerst 1936 unter dem Pseudonym Hans Rottweiler in der Zeitschrift für Sozialforschung erschienenen, nie wirklich revidiert).
8) Ich schreibe den französischen Ausdruck hin, weil die deutsche Entsprechung - „kulturelle Strahlkraft“ - so klingt, als gehöre sie zum Vokabular von Flugzeugingenieuren. 

Bilder: Gang mit Klavier (
© panthermedia.net/phil_bird), Gitarre (© panthermedia.net/PierreOlivier), Alte Europa-Karte (© moonrise/fotolia.com), Wikipedia: J. Hendrix, W. Ulbricht


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